China als Autonation aus Sicht eines Motivforschers
Von Matthias Fargel
Herr Han Nan war mit dem Service seines Lamborghini-Händlers unzufrieden; sehr unzufrieden. So heuerte er vier Arbeiter mit Vorschlaghämmern an, die vor den Augen des Händlers und Umstehenden seinen 330.000 € teuren Gallardo innerhalb einer halben Stunde zu Schrott demolierten. So geschehen am 15. März 2011, dem „International Consumer Rights Day“. Als Chinese mit Stil wusste Herr Han Nan dieses feinsinnige Zeichen mit der kalendarischen Symbolik und dem nötigen 围观wéi guān - „Gaffereffekt“ gekonnt zu verbinden. Zwei Monate später, ebenfalls in Qingdao, ereilte einen funkelnagelneuen Maserati eines anderen Halters das gleiche Schicksal, aus selben Grund: Unzureichender Service.
Mit unglücklichen Kunden ist in China nicht zu spaßen; schon gar nicht, wenn diese reich sind. Und wenn es ums Auto geht. Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich das Auto, neben Wohnungseigentum, zum begehrtesten Kaufobjekt der chinesischen Mittel- und Oberschicht entwickelt. Die leidenschaftliche Begierde nach einem eigenen Auto (oder mehreren, so möglich) muss tief wurzelnde Gründe haben. Ich unterstelle urchinesische kulturelle Treiber, die den augenscheinlichen Irrwitz des chinesischen Straßenverkehrs und staatliche Regulierungen bisher eindrucksvoll übersteuern.
2002 waren in ganz China 24 Mio. PKWs zugelassen. 10 Jahre später, 2012 zählte das Ministry of Public Securtity 137 Mio. Privatautos. Hauptsächlich in den Großstädten. In 39 Städten hat die Anzahl der dort registrierten Autos jeweils die eine Million Marke überschritten. In Beijing drängeln sich 5,4 Mio. Pkws, zuzüglich zu den Bussen, Lastwagen, Taxis und Zweiräder. Verkehrszählungen in Beijing bringen es auf 250 Fahrzeuge pro Straßenkilometer und Spur, was bei der Vorliebe der Chinesen zu „Middle-Full Size“ Autos eine bis zum Anschlag ausgereizte Nutzung der Verkehrsfläche bedeutet.
Die Durchschnittsgeschwindigkeit ist auf stockende 12 km/h in Beijing und 17 km/h in Shanghai (2013) gesunken*. Chinas Autoabgase und die fossilen Brennstoffe aus den Haushalten tragen zu 80% zu der weltrekordverdächtigen Luftverschmutzung in den Metropolen bei. Das ganze spielt sich vor dem Hintergrund weiterer, tieftrauriger Rekordzahlen ab: Weltweit stellt China 3% des Straßenverkehrs, aber 21% aller Verkehrstoten. Die staatliche Statistik der Verkehrspolizei zählte 81.600 Verkehrstote 2007; damit jedoch nur die an Ort und Stelle Verstorbenen. Das China Ministry of Health kommt im selben Jahr auf 221.000 Verkehrsopfer mit Todesfolge. Beijing hat die Ausgabe von Autozulassungen durch ein Losverfahren drastisch eingeschränkt. Unter den 1,3 Millionen Zulassungsanträgen kommen monatlich nur 20.000 zum Zuge.
Mit diesen entmutigenden Erfahrungen und Wissen aus dem Alltag: Warum giert der städtische Mittelstand Chinas dennoch nach weiteren Autos?
Die erste Erklärung klingt banal. Herr Wang, ein stolzer Erstwagenkäufer gibt stellvertretend für andere zu Protokoll: „Ich war es satt, ständig mit Mundschutz, auf der Straße und in den Bussen, mit den anderen zusammen gedrängt unterwegs zu sein. Im Auto habe ich Klimaanlage und Luftfilter“. Das eigene Auto also als fahrende Atemmaske mit wechselndem Parfumflakon vor dem Luftaustritt? Ja, auch. Doch eines der tieferen Motive liegt in der Ächtung von „Zusammengedrängt“. Fahren im eigenen Auto schafft Distanz. Das Gros der Chinesen lebt heute beengt in den Großstädten; viel zu eng, um sich wohl zu fühlen.
Noch bis vor einer Generation war China ein Agrarland mit überwiegender ländlicher Bevölkerung und entsprechender Tradition. Selbst wenn die ruralen Wohnbedingungen meist bescheiden waren, so blieb man bei der Hof- und Feldarbeit in Rufweite der anderen. Das engere Zusammensein zum Essen, Arbeiten und Palavern war freiwillig, zeitlich begrenzt und unter Bekannten. Urbane Chinesen hingegen bewegen sich stets dicht umgeben von anonymen Massen. Sie leiden darunter. Chinesische Büros sind eng bestuhlt. Geschäfte und Fabriken sind tendenziell laut und eng; ebenso Kantinen und Restaurants. Auf den Gehwegen, Parks und öffentlichen Verkehrsmittel setzt sich das Gedränge fort, fast unentrinnbar.
Nur das eigene Auto schafft in der Stadt Distanz zu alledem. Noch mehr: Es spendet Augenblicke der völligen Privatheit. Oft mehr als zu Hause, wo wieder andere mithören, mitreden. Neben rollender Atemmaske ist das Auto eine fahrende, intime Kommunikationszelle. Zum Telefonieren und zum vertraulichen Gespräch. Die in China populären abgedunkelten Fensterscheiben tragen zur Abgrenzung der Insassen von der Außenwelt bei. Cabrio? Nein Danke, lieber schalldichte Isolierung, die weder den Baulärm, Motoren- und Verkehrsgeräusche eindringen lassen. Draußen ist es oft hässlich. Chinesische Autofahrer erleben ihr Auto als heimelige Kapsel, die sie vor einer zu lauten, zu hektischen und überfüllten Umwelt zeitweise abschirmt. Trotz massiver Parkplatzprobleme bevorzugen Chinesen innen geräumige Autos, der Wohnlichkeit halber. Das geht über die reine Zweckmäßigkeit hinaus, z.B. die Familie samt Großelternteil mitzunehmen. Chinesen gestalten ihr Auto eher von Innen nach Außen, mit allem was das stundenweise Bewohnen des Vehikels persönlich macht. Schönes Innendesign, Bequemlichkeit, Raumgefühl und „Convenience“ der Binnenmöglichkeiten reizen den Autokäufer. Sitzerlebnis geht vor Fahrerlebnis. Es gibt chinesische Tuningfirmen, die sich nicht mit der Fahrtechnik, sondern nur mit der maßgeschneiderten Innenausstattung befassen: Von individuellen Ledervarianten bis hin zu eingestickten Schriftzeichen in den Nackenstützen und Drachenmotiven im Holzdekor: um sich aus der Masse herausheben, Individualverkehr im Wageninneren.
Pferdestärken, Hubraum und Marken sind jedoch wichtig, wenn es um das Auto als Statussymbol geht. Und das ist absolut keine Nebensache in China. In einer so stark hierarchisch und situativ orientierten Zivilisation sind klare Statussymbole essenziell. Für den Autokäufer spiegelt sich sein eigener sozialer Aufstieg in der Wahl des aktuell möglichen Autos wider. Chinesen schummeln in dieser Hinsicht selten. Sie kaufen sich Autos, die sie sich leisten können. Noch immer werden ca. 80% aller privat genutzten PKWs bar bezahlt, als Selbstbelohnung, als Erfolgssignal an die Familie und relevanten Dritten.
Diese Signalfunktion gewinnt auch bei der Partnerwahl an Bedeutung. Da heiratswillige chinesische Frauen besonders stark auf die soziale und finanzielle Stellung der möglichen Kandidaten achten, wird ein standesgemäßes Auto zur Pflichtausstattung im Mittelstand. Die einschlägigen Erwartungen schrauben sich in dem Maße nach oben, in dem erfolgreiche Frauen selbst Autos kaufen und somit definieren, was ihr automobiler Mindeststandard ist. Den gilt es zu toppen, aus Gesichtsgründen.
Per Auto Gesichtswahren - diese „mianzi“-Pflege führt uns zu einer weiteren Komponente der chinesischen Verhaltensmaximen: Guanxi – der Lehre vom anständigen Umgang mit anderen.
Die Orientierung am 关系 „Guanxi“ entfaltet in Verbindung mit dem Autoverkehr jedoch eine fatale Wirkung, die sich auf den Straßen jederzeit beobachten lässt. Im Großstadtverkehr sind alle drum herum 生人 shèng rén, Fremde, denen man nichts schuldet, die sich um sich selbst kümmern müssen (siehe Artikel zu „Guanxi"). Respekt und Solidarität werden im Guanxi-System den Nahestehenden, den sich gegenseitig Verpflichteten, vorbehalten. Inmitten der Massen wird das Auto zur starren Maske zum Drinsitzen; ohne jegliche Regung von Mimik und Gestik persönlich preiszugeben, ohne Risiko des Gesichtsverlusts, pflügt und hupt sich der Chinese durch Fremde im Guanxi-Sinne. Ein Auto befreit seinen chinesischen Fahrer offensichtlich von den hochgeschätzten sozialen Verpflichtungen des familiären und kollegialen Anstandes.
Im darwinistisch anmutenden Überlebenskampf der Einzelnen im Straßenverkehr bieten archaische Mechanismen Vorteile: Größer = bedrohlicher = höhere Verdrängungswahrscheinlichkeit. Und meistens reagieren die anderen Verkehrsteilnehmer instinktiv richtig im Sinne der Selbstbehauptung. Wohl dem, der ein Auto mit Knautschzone und Imponiergestalt hat. Blaulicht gekrönte oder schwarze Funktionärslimousinen stehen an der Spitze der Hackordnung; sichtlich kampferprobte LKWs und Busse rangeln auf der zweiten Stufe. SUVs und Full-Size Limousinen signalisieren nicht nur physische Präsenz sondern auch den wesentlich längeren Arm (Beziehungen und sonstige Ressourcen) bei möglichen Kollisionsfolgen. Es folgen die Wagen der Mittelklasse und eher seltenen Kleinwagen. Am untersten Ende, als Plankton des Treibens, kämpfen Radfahrer und Fußgänger.
Wohl dem der da ein Auto hat in China. Da lohnen sich das Sparen und das Warten. Es geht um nichts weniger als um Überlebenschancen, sozial wie physisch. Wenn das mal keine fundamentalen Motive und Markttreiber sind…
*Sinoceros, Gwynn Guilford, 3.1.2014
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