Car Clinics in virtuellen Welten. Missverständnisse und Potenziale.

Dr. Bastian Zwissler, Spiegel Institut Mannheim (Bild: Spiegel Institut Mannheim)

Dr. Bastian Zwissler, Spiegel Institut Mannheim (Bild: Spiegel Institut Mannheim)

Von Dr. Bastian Zwissler, Spiegel Institut Mannheim

Stellen Sie sich vor, ein Automobilhersteller erwägt, sein gut etabliertes und seit Jahren bewährtes Markengesicht für zukünftige Modelle deutlich zu verändern. Während die Designer diese geplante Neuausrichtung als willkommene Abwechslung und Herausforderung betrachten könnten, wird Entscheidungsträger besonders die Frage umtreiben, ob eine solch tiefgreifende Veränderung auch im Sinne der Stamm- und Neukunden ist. An diesem Punkt wäre die klassische Maßnahme die Durchführung einer Car-Clinic. Konkret hieße das für den Beispielfall: Der Hersteller müsste zur Beantwortung seiner Forschungsfrage mehrere Designentwürfe ausarbeiten, in 1:1- Modelle umsetzen und sie unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen auf eine Reise rund um den Globus schicken. Die Kosten und der zeitliche Aufwand wären enorm. Und eine effizientere Lösung vermutlich willkommen.

Eine mögliche Alternative zur klassischen Car-Clinic wird seit geraumer Zeit heiß diskutiert und wurde auch wiederholt erprobt: die virtuelle Car-Clinic. Das physische Modell eines Fahrzeugs wird hierbei durch eine virtuelle Darstellung ersetzt. Als 'virtuell' werden dabei 2D- als auch 3D-Stimuli verstanden. Ziel dieser Art der Designtestung ist das Erschaffen einer 'Virtuellen Realität' (VR). Derartige computergenerierte Welten sind in ihrer visuellen Qualität – bei gleichzeitig sinkenden Preisen – besonders seit den frühen 2000er-Jahren stets besser geworden. Sowohl in der Grundlagen- als auch in der angewandten Forschung gibt es zahlreiche Hinweise, dass Menschen virtuelle Welten als realitätsnah wahrnehmen und in sie eintauchen (Immersion), selbst dann, wenn keine 3D-Brille (Head-Mounted Display) eingesetzt wird. Kritischer Aspekt für erfolgreiche Immersion ist die Verbindlichkeit der virtuellen Welt. Wird eine Szenerie als verbindlich erlebt, wird der Betrachter Teil des Ganzen. Mit genau dieser Zielvorstellung sollte auch eine virtuelle Clinic konzipiert werden.

Bereits in den 1990er Jahren resümierte das Spiegel Institut im Abschlussbericht zu einer VR-Clinic, dass "nach dem Abwägen aller Für und Wider mehr für den Einsatz virtueller Verfahren zum Zweck einer 'vorgezogenen' (im Sinn von früh, nicht als Ersatz) Design-Clinic spricht, als dagegen". Der Bericht nannte auch einige wenige Einschränkungen, die sich meist auf die Textur von Oberflächen bezogen ("Lackqualität im Vergleich schwer zu bewerten.", "Reifenprofil wirkt künstlich."). Diese Einschränkungen gelten auch fast 20 Jahre danach noch in ähnlicher Form und sind teilweise im Kern mit der Methode verwachsen. Trotz gewisser Kostenvorteile, sowie höherer zeitlicher und inhaltlicher Flexibilität konnten sich VR-Clinics bisher nicht durchsetzen. Grund dafür sind aber nicht die o.g. Detailprobleme. Es ist das Fehlen eines physischen Objektes und eines haptischen Eindrucks, das vielen Entscheidungsträgern als eine ungünstige Grundlage für eine informierte Designbewertung durch Laien erscheint. Es wird häufig ins Feld geführt, dass das unwägbare Risiko bestehe, ungeschulten Teilnehmern werde eine hohe Abstraktionsleistung abverlangt. Außerdem könnten virtuelle Reize grundsätzlich nie die gleiche Begeisterung entfachen wie ein reales Designmodell, besonders hohe Skalenwerte – offenbar gefragt beim Management - seien also nur in einer 'echten' Clinic zu erzielen.

Aus unserer Sicht ist unter vielen Gesichtspunkten durchaus eine Diskrepanz wahrnehmbar zwischen Forschungsbefunden zur VR in verschiedenen Settings und ihrer Verbreitung und Bewertung in der Praxis. Ein Grund hierfür liegt möglicherweise in falschen Erwartungen an die Methode. Eine VR-Clinic kann kein gleichwertiger Ersatz für eine klassische Clinic sein. Versuche, reale Fahrzeuge und Fahrzeugmodelle schlicht durch deren digitale Variante zu ersetzen, sind eigentlich von vornherein zum Scheitern verurteilt. Stattdessen müssen die Ansätze unterschiedlich gedacht werden.

Entscheidend ist: Wer erwägt, eine virtuelle Clinic einzusetzen, sollte dies gezielt tun. Eine virtuelle Car-Clinic wird am Ende höchstwahrscheinlich weniger Kosten verursachen als eine klassische Car-Clinic, beispielsweise weil keine 1:1-Claymodelle angefertigt und transportiert werden müssen. Dieser Vorteil ist aber schnell vergessen, wenn das Management des Auftraggebers den erhobenen Daten misstraut. Enttäuschungen dieser Art können aus unserer Sicht am besten durch eine sorgfältige methodische Beratung vermieden werden. Diese sollte nach Möglichkeit früh im Projektablauf einsetzen und zunächst zentrale Erkenntnisinteressen ermitteln. Im Zweifel kann dies dazu führen, dass von einer virtuellen Car-Clinic abgeraten wird und doch eher altbewährte Methoden oder Misch-Ansätze empfohlen werden. Des Weiteren sollten so viele Stakeholder wie möglich einbezogen werden. Dies hilft, Vorbehalte früh zu identifizieren und Erwartungen am Ende auch erfüllen zu können.

Das virtuelle Stimulusmaterial stellt einen weiteren kritischen Aspekt dar. Speziell bei 3D-Darstellungen variieren Qualität und Kosten erheblich, werden 2D-Stimuli (Fotos oder Renderings) eingesetzt, spielen Faktoren wie Bildperspektive, Lichteffekte oder Verzerrungen eine immense Rolle. Auch bei der verwendeten Projektionstechnik gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten. Vielen erscheint die aufwendigste Variante als diejenige, die den Testteilnehmern auch den besten Eindruck ermöglicht. Häufig reichen hier jedoch einfachere Lösungen völlig aus, beispielsweise, weil das volle Potential eines High-End-Beamers bei dem erforderlichen Projektions- und/oder Bildformat ohnehin nicht ausgereizt werden könnte. Das eigentliche Potential virtueller Clinics liegt in der Möglichkeit, ganz neue Forschungsfragen stellen und beantworten zu können. VR-Clinics sind sehr früh im Entwicklungsprozess und auch kurzfristiger durchführbar. Die Testung einer Vielzahl von Reizkonstellationen ist ohne großen Mehraufwand und ohne Einbußen bei der Standardisierung umsetzbar. Aufgrund des geringeren organisatorischen Aufwands können schwierige Stichproben besser realisiert oder auch längsschnittliche Studiendesigns (beispielsweise mit Pre-Test oder zeitlicher Trennung von qualitativer und quantitativer Befragung) erwogen werden. Neue Locations können erschlossen und so – bei vergleichsweise übersichtlichen Kosten – Premium-Venues gestaltet werden, bei denen nicht grauer Messe-Teppich und weiße Messe-Stellwände hinter Messe-Mietpflanzen versteckt werden.

Das Spiegel Institut Mannheim hat ein Konzept für virtuelle Designtests entwickelt, das den Fokus genau auf die genannten Aspekte richtet: Die experimentelle Pre-Clinic (EPC). EPCs sollen kleine Zukunftswelten erschaffen und auf diesem Wege auch ein Problem angehen, das allen Clinics – virtuellen und realen – gemein ist: Zeit. Clinics müssen ihrer Zeit per definitionem voraus sein. Die meisten Clinic-Teilnehmer sind aber keine Spezialisten für Zukunftstrends oder –designs, für aufkommende Moden oder Technologien. Sie bewerten das Gesehene mit Blick auf die Gegenwart oder vergangene Erfahrungen. Die Zukunft virtueller Clinics liegt also auch darin, wie gut sie es schaffen, Clinic-Teilnehmer den Blick in die Zukunft richten zu lassen.

Der Autor:

Der Diplom-Psychologe Dr. Bastian Zwissler ist ist Project Manager International Market Research beim Spiegel Institut Mannheim

 

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