Edward Appleton Calling all Brilliant Storytellers – der Weg zurück zum Human Touch

"Die Marktforschung braucht noch mehr Algorithmen, um immer schnellere Top-Lines sowie Handlungsempfehlungen zu ermöglichen – am liebsten gekoppelt mit automatisierten, impliziten Messmethoden wie Facial Coding, die automatisch Zugang zu den nicht-rationalen Beweggründen der Probanden erlaubt."
Wirklich? So müsste anscheinend eine zentrale Schlussfolgerung aus der neuesten GRIT Studie (Q1/ Q2 2019) über die Zukunft der Marktforschung lauten. KI ist nach wie vor Thema Nr. 1. Denselben Eindruck bekommt man vom KANTAR CEO Eric Salama, wenn er die zukünftige Richtung von Kantar nach der Bain Capital Übernahme beschreibt. Alexander Falser, Head of Consumer Intelligence bei Tchibo, hat Ähnliches auf der Insights 2019 Konferenz in Frankfurt kommuniziert: der herkömmliche Insights-Eisberg schmilzt, ohne Standardisierung und Automatisierung schaffe die Marktforschung nicht den Sprung auf den nächsten zukunftsträchtigeren Eisberg; herkömmliche, langsame Mafo-Disziplinen werden digital abgehängt. Diese Sichtweisen liest und hört man sehr häufig, in Fachartikeln als auch auf Konferenzen.
Allerdings gibt es aktuell auch andere Stimmen, die eine Rückbesinnung auf "echte Insights" signalisieren, die in Zeiten von digitaler Effizienzbesessenheit leicht verloren gehen. Folgendes wurde von Cheryl Calverley, CMO von Eve Sleep (UK) bei der UK Fachzeitschrift Marketing Week (Today's marketers are missing true customer insight) Ende August 2019 festgehalten:
"I find it astounding that the more sophisticated we get – with analytics, predictive modelling and rafts of data scientists – the less able we seem to be to put ourselves in our customers’ shoes and create brands and interactions that genuinely make their lives better."
Sie spricht von organisatorischen Ursachen – durch die zunehmende Spezialisierung der Marketing-Subdisziplinen hat inzwischen keine einzige Abteilung mehr die klare Hoheit, eine einheitliche Customer Perspektive zu vertreten und zu verteidigen.
Ähnliches hörte man von britischen betrieblichen Marktforschern auf dem Insights Kongress in London im Mai 2019 ("Insights in the Age of Machines") – der UK Markt ist ja mehr als doppelt so groß wie der deutsche, somit auf Platz 2 hinter den USA weltweit.
Kunden von Mars Petcare, Sky UK, Legal and General, Molson Coors berichteten bei einer Panel Diskussion von der schieren Überflutung von neuen Mafo-Ansätzen – die direkt zu einer Überforderung führt. Für eine Validierung von sexy klingenden neuen Methoden sei intern weder Zeit noch Expertise vorhanden. Deren eigentlicher Fokus läge bei der internen Vermittlung des Mafo-Mehrwerts – um an Einfluss zu gewinnen, eine positive Wahrnehmung zu erreichen aber auch Goodwill in der Verteilung von Ressourcen. Viele klagten nach wie vor über mangelndem Personal und schrumpfenden Budgets.
In einer zweiten Paneldiskussion (full disclosure: vom Autor moderiert) aus einer Mischung von Institutsleitern im Bereich der qualitativen Marktforschung sowie drei betrieblichen Marktforschern stellte ich die provokative Frage, ob statt dem x-hundertsten neuen Algorithmus vielmehr eine Rückbesinnung auf den Human Touch in der Marktforschung von Nöten sei. Sollten wir mehr Zeit mit dem Endkunden verbringen, der Rechner strikt zugeklappt lassen und das Smartphone "on mute" stellen?
Fiona Hall, Head of Insights bei AkzoNobel, hob die Bedeutung von "echter qualitativer Forschung" hervor. Gerade in Zeiten, in denen es viel zu viele Datengäbe es eben auch viele Unsicherheiten. Hier hilft die qualitative Marktforschung, die erforderlich Klarheit, Authentizität, sogar Kausalität zu liefern. Bei ihrem Unternehmen existieren zum einen In-House Panels von End-verbrauchern (Akzo "Home Zone"), zum anderen eine Akademie von Profi-Malern. Hier können Marktforscher informelle als auch strukturierte Fragen stellen und sich so direkt und unkompliziert mit den Profi-Malern austauschen.
Stuart Bluck, Senior Insights Manager bei Whitbread, sprach über die Notwendigkeit von filigranen Erkenntnissen bei der Innovationsforschung. Durch eine qualitative Studie sei es ihm gelungen, die Needs und Wants für ein neues Hotelzimmerkonzept sehr detailliert und haptisch zu verstehen, Designern konnte dadurch bei der Weiterentwicklung sehr konkret geholfen werden.
Auf Institutsseite haben Caroline Hayter (Mitgründer von Acacia Avenue) und Peter Totman (Head of Qualitative Research bei Jigsaw Research) die Rolle der Sprache in der Maximierung von Insights-Wirkung hervorgehoben – und zwar in menschlichem Sinne, nicht in Richtung Alexa oder Siri. Peter Totman ortete eine Gefahr bei Instituten, vor allem in ökonomisch eher schwierigen Zeiten, sich zu sehr der Kundenperspektive anzunähern, insbesondere deren Sprachstil zu imitieren, um somit Pitches zu gewinnen. Dies resultiere in einer nicht zielführenden Imitation der dominanten Kunden-Kultur.
Solch konservatives Akquise-Verhalten bedeute, dass Institute keine neuen Impulse und neue Sichtweisen mehr böten, sogar ähnliche Vorurteile und Begriffe widerspiegeln. Man liefere nicht mehr das, wofür man als externer Partner bezahlt wird: Inspirierendes, Frisches und Provokatives.
Caroline Hayter vertrat dagegen die Perspektive, dass ohne die Nutzung der spezifischen Sprache und Begrifflichkeiten eines Unternehmens, Insights-Outputs in ihrer Wirkung leicht verpuffen würden. Forscher müssten jenseits von guten Storytelling-Skills doch eine bildhafte und involvierende Sprache finden, dabei mit Begriffen und Metaphern spielen um die Brücke zwischen der externen, eher naiven Konsumentensprache und der firmeneigenen Management-Sprache zu bauen.
Am Ende des Seminars lag eindeutig dieser Eindruck im Raum: So sehr und so schnell sich die Tech-Landschaft und IT Möglichkeiten auch geändert haben mögen, in der der Marktforschung sind die Challenges zum größten Teil dieselben geblieben. Budgetkürzungen bei mehr Arbeit odermangelnder Einfluss seien nur als Beispiel genannt.
Abschließend noch ein kleiner, gewagter Blick in die Zukunft: Die ersten Trendspitzen einer neuen Phase, nach der Atemlosigkeit und Aufregung einer stark disruptiven Digitalisierungswelle, scheinen sich dabei zu zeigen. Digital bringt zweifelsohne viele Vorteile, Effizienz ist und bleibt essentiell – aber Effektivität ("effectiveness") genauso. Wir tun gut daran, uns rechtzeitig auf unsere menschlichen Stärken zu besinnen - und damit eine leichte Umpositionierung zu erreichen und eine neue Erwartungshaltung zu etablieren. Das mögen Kreativität, spezifische Kategoriekenntnisse, statistische oder Storytelling Skills, Verhaltensökonomie oder Strategie-Stärken sein, die Liste ist lang, jeder hat andere Fähigkeiten – der beste Programmierer zu sein ist kein Muss.
Und um die anfangs erwähnte Frage zu beantworten: ja – wir brauchen mehr brillante Marktforscher und Marktforscherinnen, gerne jüngere, diverser kultureller Herkunft und mit unterschiedlichen Backgrounds. Genialität hat eindeutig eine Ausstrahlungswirkung, die weit über unsere normalen Mafo-Grenzen hinausreicht. Und wenn diese künftige Arbeit länger als 48 Stunden dauert, sollte das nicht defensiv oder altmodisch klingen. Gute Marktforschung ist mehr als nur eine knappe Antwort von Alexa ;)
Auf eine spannende Zukunft.
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