Prof. Horst Müller-Peters, Herausgeber marktforschung.de Branchenschelte durch Spiegel Online: Übertrieben oder überfällig?

Prof. Horst Müller-Peters
Übertrieben, sagen viele - und verweisen darauf, dass die Spiegel Online Recherchen sich (zumindest, was die bislang veröffentlichten Artikel betrifft) nur auf einige wenige, nachrangige Institute beziehen, in denen tatsächlich oder vermeintlich systematisch betrogen, beziehungsweise Betrug von Subunternehmern grob fahrlässig in Kauf genommen wurde. Schwarze Schafe gebe es schließlich überall, und daraus abgeleitete Generalisierungen wie "... fällt es schwer, noch irgendeinem Umfrageergebnis zu vertrauen" (O-Ton der Spiegel Online Journalisten im Video) seien unzulässig. Zudem zeigen die zwei Unternehmenspleiten des SPON "Kronzeugen", dass die Selbstreinigungskräfte des Marktes gegenüber Fake-Anbietern vielleicht doch nicht so gering sind?
Also lediglich ein weiterer Auswuchs von Empörungskommunikation und Skandaljournalismus?
Überfällig? Fake gibt es nicht nur bei autokratischen Präsidenten
Einiges spricht dafür, das Problem ernst zu nehmen und nicht als temporäre Skandalisierung abzutun:
- Vertrauensverlust: Ob berechtigt oder unberechtigt: Ein Vertrauensschaden ist da – und dürfte angesichts der Reichweite der Berichterstattung die mühsam errungenen Effekte der "Initiative Markt- und Sozialforschung" wohl mehr als zunichtemachen. Alleine aus symbolischer Sicht sind also Reaktionen der Branche unverzichtbar. Selbst wenn nur wenige Studios direkt durch die geschilderten Betrügereien betroffen sind: Durch das Netzwerk von Feldinstituten finden sich die Fälschungen später in den Ergebnissen zahlreicher Institute wieder. Die Zuständigkeit auf die vorgelagerten Instanzen abzuwälzen, ist illegitim. Schließlich erwarten wir von einem Autohersteller auch, dass er die Zulieferkette kontrolliert, und von einem Lebensmittelhersteller, dass er die Qualität der zugekauften Zutaten garantiert.
- Bekannte Qualitätsprobleme: Auch bei großen, etablierten Instituten gibt es Fake! Ob offiziell oder unter der Hand, es ist immer wieder von kleinen "Schummeleien" zu hören. Dies wäre nicht weiter tragisch, solange nur ein ganz kleiner Teil der Interviews betroffen wäre und die Fehlerquote durch konsequente Auswahl, Schulung und Kontrolle dauerhaft niedrig gehalten würde. Zu hinterfragen ist aber, ob das auch wirklich immer konsequent erfolgt. Und selbst Institute mit "zweifelhaftem" Ruf scheinen dauerhaft einen Platz im Markt zu haben und immer wieder Auftraggeber zu finden, die sich vom Preis und leeren Versprechen ködern lassen.
- Überzogene Ansprüche: Repräsentativ, gründlich, schnell und billig passen meist nicht unter einen Hut. Enormer Preisdruck, völlig unrealistische Quotenvorgaben oder nur noch hypothetisch erreichbare Ausschöpfungsquoten machen es ernsthaften Forschern schwer. Das gilt erst recht, wenn die Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft der Probanden abnimmt und die Personalgewinnung angesichts der Beschäftigungslage immer schwieriger wird. (Siehe zu dieser Problematik unsere Themendossiers zur Repräsentativität)
- Die Laissez-Faire-Falle: Trauen sich Anbieter nicht, die oben genannten Probleme aktiv zu adressieren oder höhere Preise zu begründen, sind sie schnell in der Zwickmühle: Sollen sie den Auftrag verlieren, oder defizitär arbeiten, oder die überzogenen Vorgaben des Auftraggebers verfehlen? Oder ist es leichter, im Feld oder bei Subauftragnehmern nicht so genau hinzuschauen, um am Ende pünktlich einen Bericht mit den so unbestechlich erscheinenden Zahlen einzureichen? Die Versuchung ist groß!
- Schwache Strukturen: Vielfach fehlen auch einfach die Kontrollinstanzen: Ein systematisches Qualitätsmanagement und unabhängiges Controlling ist anders als in der produzierenden Industrie nicht wirklich verbreitet. ISO-Zertifizierungen sind die Ausnahme, das Projektmanagement agiert vielfach autonom. Der nun von den Verbänden intensiv beschworene Rat der Markt- und Sozialforschung wird bisher nur selten aktiv und war gar über mehrere Jahre gar nicht handlungsfähig.
Zeit zum Handeln
Der Dieselskandal kommt für die etablierten Autoanbieter zur Unzeit – müssen sie sich doch gerade neuen Herausforderungen wie CO2-Problematik, Elektromobilität oder Verkehrswegekollaps stellen.
Auch die etablierten Anbieter der Marktforschungsbranche stehen vor einem Umbruch: Neue digitale Wettbewerber, die Verschmelzung von Analyse und Operations bei den Auftraggebern, die Konkurrenz durch Big Data & Co. haben die Branche schon jetzt in eine Verteidigungsposition gebracht. Interviewer wie auch Befragte können schummeln - live gemessene Verhaltensdaten lügen nicht! Ein Vertrauensverlust ist das letzte, was die Branche – und besonders die Anbieter von CATI und F2F - in dieser Situation gebrauchen kann. Handeln ist also gefragt.
- Bei den Verbänden: Sind die Richtlinien streng genug? Werden neue Mitglieder ausreichend geprüft und gemeldete Verstöße konsequent genug geahndet?
- Bei den Auftraggebern: Wie steht es um die Auswahl und Kontrolle der Auftragnehmer? Und: Sind die eigenen Vorgaben überhaupt realistisch umsetzbar? Das betrifft nicht nur das Budget, sondern auch die Frage, ob das angestrebte Forschungsziel nicht auch mit weniger rigiden Quoten, kürzeren Interviews et cetera zu erreichen ist. Mehr Realismus, weniger Wunschdenken ist gefragt.
- Bei den durchführenden Feldinstituten: Konsequente Kontrollen, oder - sofern gegeben - noch bessere Kommunikation der qualitätssichernden Maßnahmen. Und vor allem: Mehr Rückgrat, wenn es um die Hinterfragung unrealistischer Erwartungen und um die Durchsetzung erträglicher Preise geht.
In letzterem Sinne könnte der Skandal auch zum reinigenden Gewitter für die Branche werden und die Aufmerksamkeit wieder auf das richten, worauf es wirklich ankommt: Zuverlässige, belastbare Ergebnisse als Basis unternehmerischer Entscheidungen oder der öffentlichen Meinungsbildung. Und die sind allemal ihren Preis und das Vertrauen von Kunden und Bevölkerung wert!
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