Prof. Dr. Christian Rietz "Betriebliche Marktforschung wird immer wichtiger"

Christian Rietz (Bild: (c) SFB 1252 UzK)
Ich selbst bin nie betrieblicher Marktforscher gewesen, habe aber zahlreiche betriebliche Marktforscher und Marktforscherinnen in den unterschiedlichsten Kontexten kennengelernt. Und dabei habe ich festgestellt, dass es kaum ein Berufsbild gibt, das durch eine so starke Varianz der individuellen Voraussetzungen und Fertigkeiten geprägt ist. Ein kleinster gemeinsamer Nenner ist aber, dass sich die meisten mir bekannten betrieblichen Marktforscher eine hohe Expertise mehr oder weniger autodidaktisch und über einen längeren Zeitraum erarbeitet haben – auch bedingt durch die Nischenexistenz des "Schmuddelthemas" Marktforschung in akademischen Ausbildungsgängen. Betrieblicher Marktforscher ist man nicht einfach, sondern man wird es.
Betriebliche Marktforscher werden für die Unternehmen gerade im Kontext des nicht mehr zu leugnenden digitalen Transformationsprozesses immer wichtiger, was ich in den folgenden Thesen ausdrücken möchte.
- Nur betriebliche Marktforscher können noch den Überblick über sich stark diversifizierende Märkte und Kundengruppen behalten
Produkte, Vertriebskanäle und Kundengruppen werden zunehmend komplexer und aufgefächerter. Letztendlich muss man sein Produkt und seine Marke verinnerlichen, um diese zahlreichen Prozesse wahrnehmen zu können. Die ganzheitliche Betrachtung und deren stetige – auch zum Teil interdependente – strukturelle Veränderung ist extern nur sehr schwer zu leisten und setzt eine hohe Expertise voraus, die ein guter betrieblicher Marktforscher durch seine Aufgabe und sein Selbstverständnis erworben hat beziehungsweise fortlaufend erwirbt. Auch das Verstehen von Kunden und deren Bewertungen erfordert immer größere Insights und eine Sensibilität für das eigene Unternehmen und dessen Märkte. Ich persönlich empfinde immer wieder großen Respekt vor betrieblichen Marktforschern, die ihre Aufgabe "leben" und somit einen hohen Mehrwert für ihr Unternehmen generieren. Externe Anbieter und Dienstleister werden immer größere Schwierigkeiten haben, diese komplexen Gesamtsysteme zu durchdringen. Denn im Vergleich zu früheren Jahren geht es heute nicht mehr um die Reduktion, sondern um das Verständnis von Komplexität. - Big Data ohne betriebliche Marktforscher ist ein sinnloses Unterfangen
Eine der gängigsten Fragen derzeit lautet, ob und wie viele Data Scientists ein Unternehmen beschäftigt. Und diese Frage ist unter dem Aspekt, dass immer mehr Daten über Produkte, Kunden und Märkte zur Verfügung stehen, gerechtfertigt. Wenn ein Unternehmen über Datenbanken und Analyse-Tools verfügt sowie in Echtzeit alle möglichen Informationen integrieren kann, dann stellt sich irgendwann die Frage, welchen Wert diese Daten überhaupt haben: Welche sind relevant und welche verzerren eher? Das automatisierte Verknüpfen beliebiger Informationen und das maschinelle Lernen funktionieren aber nicht von alleine, sondern setzen an vielen Stufen Informationen über die Sinnhaftigkeit von Korrelationen oder die Bewertung von Ergebnissen voraus, die nur eine Person geben kann, die die Daten und die Märkte kennt und Scheinkorrelationen erkennen kann – und das ist nach meinen bisherigen Erfahrungen häufig ein betrieblicher Marktforscher. Es geht also um die Expertise, Informationen und Verknüpfungen zu bewerten – ein wichtiger Baustein der sogenannten Digital Literacy. - Die digitale Transformation macht betriebliche Marktforscher zu Change-Agenten
Die digitale Transformation ist kein Schlagwort, sondern ein Prozess, der in Unternehmen gelebt werden muss – sonst ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema nur wenig sinnvoll. Vielen Entscheidern in Unternehmen ist aber überhaupt nicht klar, dass digitale Transformation nicht nur digitale POS oder Kundenkontakte bedeutet, sondern auch einen strukturellen Wandel in der Nutzung von Produkten und Dienstleistungen mit sich bringt. Viele Entscheider stellen sich die Frage, wie sich die Elemente der ihnen bekannten analogen Welt irgendwie in die digitale Welt transformieren lassen – was natürlich nicht funktioniert.
Gerade an dieser Stelle sind betriebliche Marktforscher unersetzbare Mittler zwischen den Agenten der neuen Welten und den Vorstellungen von Unternehmen. Im Extremfall werden betriebliche Marktforscher auch das eine oder andere Mal auf unbequeme Wahrheiten und die Notwendigkeit der ganzheitlichen Betrachtung von digitalen Transformationsprozessen hinweisen (Gerne denke ich an meinen Besuch bei einem Autohersteller, der sich in digitalen Touchpoints versucht, an dessen Empfang aber tatsächlich noch eine manuelle Schreibmaschine stand, mit der Besucherausweise ausgefüllt wurden). Letztendlich sind betriebliche Marktforscher die Instanz, die eine Ressourcenallokation in die digitale Welt und in die analogen Reste sinnvoll und mit Sachverstand steuert und die digitale Transformation und ihre Relevanz für das Unternehmen transportieren kann.
Die digitale Transformation führt aber auch dazu, dass betrieblichen Marktforschern hausintern viel mehr Daten zur Verfügung stehen, um Marktforschung zu betreiben und Kunden und Märkte zu analysieren. Gerne wird das als Einladung zu unreflektierter DIY-Marktforschung verstanden – das scheint mir nach meinen bisherigen Beobachtungen aber ein Trugschluss zu sein, denn gerade betriebliche Marktforscher legen bei der Verwendung von eigenen Tools und Daten eine hohe Sensibilität und Verantwortung an den Tag. Ein (positiver) Nebeneffekt der digitalen Transformation ist aber auch, dass die Grenzen zwischen den beiden – sich häufig nicht immer freundlich gesonnenen – Polen Marketing und Marktforschung immer durchlässiger werden. - Intuition und Marktverständnis sind wichtiger als Methodenkompetenz
Es gibt im steten Wechsel immer wieder neue oder häufig auch nur neuerweckte Methoden, die betrieblichen Marktforschern das Verständnis ihrer Kunden erleichtern oder sogar zu neuen Insights führen sollen, so zum Beispiel sämtliche Formen von Neuropsychologie und Behavioral Economics, Tracking-Aktivitäten an mobilen Endgeräten, Emotionserkennung und so weiter. Während Entscheider in Unternehmen häufig von den zahlreichen Möglichkeiten fasziniert sind, können erfahrene Marktforscher entscheiden, ob ein neues Tool tatsächlich einen echten Mehrwert für die Analyse und Vorhersage des tatsächlichen Kundenverhaltens bietet. Das setzt natürlich voraus, dass die Marktforscher informiert bleiben und in engem Kontakt zu Wissenschaft und Kollegen stehen.
Es bleibt die zentrale Frage: Können betriebliche Marktforscher den modernen Anforderungen noch authentisch begegnen?
Diese Frage möchte ich mit einem klaren Ja beantworten. Denn wer als betrieblicher Marktforscher
- mit "seinen" Produkten und Dienstleistungen und "seinem" Unternehmen lebt,
- offen für gesellschaftliche Transformationen und Wandlungsprozesse ist,
- sich traut, Fragen an Kollegen und Wissenschaft zu stellen, wenn etwas nicht verstanden wurde,
- in der Lage ist, den gesunden Menschenverstand zu bemühen und
- die Courage hat, die Frage nach des Kaisers neuen Kleidern zu stellen,
wird ein immer integraler und nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der zukünftigen erfolgreichen Entwicklung von Unternehmen sein.
Der Autor:
Prof. Dr. Christian Rietz lehrt seit Oktober 2017 als Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Forschungsmethoden nach dem Mixed-Methods-Ansatz an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Zuvor leitete er den Arbeitsbereich "Forschungsmethoden" an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Christian Rietz beschäftigt sich insbesondere mit den Auswirkungen der digitalen Transformation auf Datenerfassungsmethoden. Gemeinsam mit Marco Ottawa, Marktforscher bei der Deutschen Telekom, ist er Verfasser des Buches "Der betriebliche Marktforscher, das unbekannte Wesen?".
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