Beitrag von Dr. Thomas Rodenhausen Automobilmarktforschung: Wie digitale Testverfahren von Marktumwälzungen profitieren

Thomas Rodenhausen (Bild: Harris Interactive)
Für die deutsche Automobilindustrie hat die sinnlich erfahrbare Qualitätsanmutung von Oberflächen, Materialien und Bedienelementen im Innenraum größte Bedeutung. Forschungs- und Entwicklungsteams beschäftigten sich damit, wie satt die Tür in Schloss fällt, wie sich der Ledersitz anfühlt und ob der Getränkehalter so langsam ausfährt, als wäre er eine zentnerschwere Tresortür. Auch Werbekampagnen verbreiten eine Qualitäts-Message: So baute Volkswagen seine Marketingaktivitäten für Golf und Polo rund um das Wort "wertig" auf.
Nicht nur bei den Wolfsburgern ist die sinnlich erfahrbare Qualitätsanmutung – die nicht unbedingt mit langer Haltbarkeit der technischen Komponenten oder niedrigen Unterhaltskosten korreliert – der rote Faden, der sich durch alle Aktivitäten zieht. Schon Klein- und Kompaktfahrzeuge der deutschen Automobilmarken sind heute im Innenraum bereits so gut ausgestattet wie Wagen einer höheren Klasse. Die Logik dahinter ist simpel: Das Erleben des Interieurs zählt für Autobesitzer mehr als die reine Funktionalität.
Umwälzungen im Markt
Deutsche Autos stehen für Qualität, die Vertrauen schafft. Nun hat aber vor allem die Dieselkrise an den Grundfesten dieses Versprechens gerüttelt. Politik und weite Teile der Gesellschaft fordern den Umstieg auf emissionsfreie elektrische Antriebe. Im August 2017 wurden laut Kraftfahrt-Bundesamt fast 14 Prozent weniger Dieselfahrzeuge zugelassen als im Vorjahresmonat. Elektrisch betriebene Fahrzeuge konnten dagegen einen Anstieg von 143 Prozent verbuchen. Auch wenn dies von niedrigem Niveau geschieht, könnte eine Zeitenwende vor der Tür stehen. Darauf müssen Automobilhersteller reagieren und an neuen Konzepten sowie technischen Entwicklungen arbeiten.
In den kommenden Jahren wird sich der Fokus der Automobilmarktforscher also von Innenausstattungs-Tests in Richtung struktureller Innovationen bewegen. Die sind dringend nötig: Jeder Hersteller bietet heute eine ganze Palette von Autotypen an, die fast alle Preisklassen abdecken. Umso wichtiger ist es für die Industrie, sich auch über grundlegende Innovationen zu differenzieren. Das Sitzgefühl auf dem Lederbezug oder die Anmutung des Armaturenbretts werden nicht mehr ausreichen, um angesichts grundlegender Veränderungen in Gesellschaft und Politik im Wettbewerb vorne zu bleiben.
Chance für digitale Testverfahren
Das könnte auch den digitalen Testverfahren mehr Nachfrage bescheren. Bislang setzen Hersteller zu Marktforschungszwecken in Car Clinics vorwiegend auf reale Fahrzeuge, die in einem Teststudio als Prototypen neben Wettbewerbsfahrzeugen zum Vergleich aufgestellt werden. Das ist mit hohem Logistik- und Kostenaufwand verbunden, bevor auch nur ein einziges Interview abgeschlossen ist. Die geheimen Prototypen müssen in die für die Befragung relevanten Märkte transportiert werden, dazu kommt die Anmietung von Testhallen und Wettbewerbsfahrzeugen. Die Tests gehen mit hohen Sicherheitsanforderungen einher, um die Ideen der Hersteller zu schützen.
In der Endphase der Entwicklung, wenn bereits ein echtes Modell vorhanden ist und nur noch Design-Details geklärt werden müssen, haben sich klassische Car Clinics bewährt. Denn die Meinung zu Sensorik und Haptik des verwendeten Materials lässt sich nur in realen Settings abfragen. Haptische Nuancen, auf die es im Automobilbau ankommt, kann man nur spüren.
Seit mehreren Jahren werden gleichwohl auch digitale Tests angeboten, bislang allerdings eher als Ergänzung zu klassischen Car Clinics. Sie zielen nicht darauf ab, die realen Tests zu ersetzen. Probanden bewerten die Fahrzeuge vielmehr zusätzlich mittels unterschiedlicher Visualisierungstechniken am Computerbildschirm, in einem Simulator oder per Virtual-Reality-Brille.
Digital versus virtuell
Dabei sind digitale von virtuellen Testverfahren zu unterscheiden. Online-Testverfahren funktionieren wie Auto-Konfiguratoren, welche die meisten PKW-Hersteller auf ihren Webseiten anbieten. Das Testfahrzeug wird mithilfe von hochauflösenden Fotos am Computerbildschirm abgebildet. Durch Heranzoomen lassen sich Details wie Stofftexturen erkennen.
Dieses Verfahren hat entscheidende Vorteile: Sowohl eine einfacher herstellbare Repräsentativität des Befragtenkollektivs als auch beschleunigte Innovationszyklen sprechen für den Einsatz solch digitaler Car Clinics. Kosten und Aufwand sind deutlich geringer als bei klassischen Car Clinics, Probanden müssen nicht aus allen Teilen Deutschlands zum Testort reisen. Auch können die Testobjekte digital schnell und flexibel angepasst werden.
Echte virtuelle Testverfahren sind mit deutlich mehr Aufwand verbunden. Probanden bewegen sich mit Datenbrillen und teilweise per Datenhandschuh im virtuellen Raum. Besonders spannend ist in diesem Zusammenhang der Fahrsimulator: Wie beim Training von Piloten können Probanden im Simulator auch die Bewegung und Neigung des Fahrzeugs nachempfinden.
Virtuelle Tests: zu aufwendig für herkömmliche Marktforschung?
Die Nachteile: Probanden müssen entweder das technische Equipment privat zur Verfügung haben oder wiederum an einen Testort reisen. Dazu kommt: Die technischen Voraussetzungen sind noch so speziell, dass sowohl Entwicklung als auch Nutzung zumeist zu aufwendig beziehungsweise anspruchsvoll für herkömmliche Marktforschung sind.
Gerade mit zunehmendem Fokus auf alternative Antriebe und Innovationen gewinnen digitale und virtuelle Testverfahren nun an Berechtigung. Bereits in frühen Phasen der Entwicklung können die Hersteller so grundlegende Konzepte testen. Es bedarf keinem ausgefeilten Prototyp, auch die bei Design- und Ausstattungselementen so wichtige Haptik spielt in der frühen Konzeptionsphase meist noch keine Rolle. Der Aufwand ist deutlich reduziert, Tests könnten zudem zeitgleich in verschiedenen Märkten stattfinden.
Ob virtuelle Car Clinics auf Dauer eine Alternative zu klassischen und digitalen Testverfahren darstellen, ist Gegenstand zahlreicher Forschungsreihen. Die jüngsten Entwicklungen im Automobilmarkt zeigen, dass sowohl digitale als auch virtuelle Marktforschung großes Potenzial haben.
Der Autor:
Dr. Thomas Rodenhausen ist CEO bei der Harris Interactive AG, die seit 1996 auf digitale Marktforschungsinnovationen setzt. Zudem ist er auch Vorstand beim Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e.V. (BVM). Dr. Rodenhausen ist Diplom-Psychologe und hat an der Freien Universität Berlin promoviert.
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