Arzt in China – Hintergrund und Hintergründiges

Von Matthias Fargel
Dem amerikanischen PEW Research Centers zufolge fallen Chinesen durch ausgeprägten Optimismus auf (87%). Jedoch nicht Chinas Ärzte. Laut Online-Portal für Mediziner dxy.cn sehen 56% nicht zuversichtlich in ihre berufliche Zukunft. 89% haben schon mal überlegt, den Beruf aufzugeben; spärliche 7% wünschen sich, dass ihre Kinder ebenfalls Ärzte werden, Tendenz fallend. Von sechs Studenten in medizinischen Fächern macht nur noch einer den Abschluss; anschließend wählt über die Hälfte jener Absolventen eine Laufbahn außerhalb der Krankenhäuser.
Schon das konfuzianische Denksystem räumte Ärzten geringen sozialen Status ein. In der Qing-Zeit (1644-1912) machte das Bonmot die Runde, mehr Patienten stürben an der Medizin denn an der Krankheit. Bis ins 20. Jahrhundert hatte westliche Medizin gegenüber der traditionellen Medizin TCM einen schweren Stand. Unter den Mao-Kommunisten gerieten Ärzte westlicher Ausrichtung als potentielle bürgerliche Intellektuelle unter Generalverdacht und wurden erneut kurz gehalten. Während der Kulturrevolution (1965-1975) kam die universitäre Arztausbildung vollends zum Erliegen. Das Image des Berufsstandes nahm zusätzlich Schaden durch wackere Volksgenossen, die auf Maos Geheiß als „Barfußdoktoren“, ab 1965 eine rudimentäre Basisversorgung auf dem Land sichern sollten; blutjunge Laien, die - im besten Falle - eine mehrwöchige Unterweisung in TCM und Minimalausrüstung erhalten hatten. Diesen Pionieren kommt historischer Verdienst bei Maßnahmen zur Volkshygiene, jedoch nicht als Therapeuten zu; sie waren erbärmliche „Ärzte“ (seit den achtziger Jahren abgelöst).
Während heute unter Ärzten der Blues umgeht, steigt China zu „one of the world’s most exiting“ Pharma- und Healthcare Märkte auf (McKinsey2012), dessen pro Kopf Ausgaben für Gesundheitsleistungen von 2006 auf 2011 sich mehr als verdoppelt haben (von 119 auf 261 US$); Die Zahl der ambulanten Visiten ist von 2005 bis 2011 von 4 auf 6,2 Milliarden angestiegen; die stationären Aufenthalte haben sich im gleichen Zeitraum von 71 auf 152 Mio. verdoppelt. IMS Health rechnet mit einem jährlichen Wachstum des Arzneimittelvolumens von 14-17%, ähnliche Prognosen gelten für die Medizintechnik.
Der Alltag der 2,4 Mio. Ärzte* Chinas wirkt weniger verheißungsvoll. In den besonders populären Polykliniken der Kategorie III Krankenhäuser versorgt jeder Arzt durchschnittlich 50 -60 Patienten pro Halbtag; ganztags über 100. Zwei Minuten netto bleiben für Anamnese, Untersuchung, Beratung; weitere zwei zum Ausstellen des nächsten Laufzettels, Überweisung und Rezept. Chinesische Krankenhäuser sind äußerst arbeitsteilig und bürokratisch; für Patienten bedeutet das unterschiedliche Anlaufstellen und lange Wartezeiten je Untersuchung; für Ärzte eine fragmentierte Patientendokumentation mit wenig Zeit zur Würdigung der gesamten klinischen Bildes.
Der rasante Patientendurchsatz ist nicht nur dem Druck der prall gefüllten Wartesäle geschuldet, sondern auch wirtschaftlichen Zielvorgaben seitens der Vorgesetzten. Prämien winken den Ärzten, wenn sie quantitative Sollvorgaben erfüllen; Boni für teure Medikamente und Untersuchungen bessern das vergleichsweise bescheide Grundgehalt auf. Trotz der langwierigen Ausbildung bis zum NMLE-Examen verdienen Ärzte regulär deutlich weniger als ihre ehemaligen Kommilitonen in der freien Wirtschaft. Wer als Arzt im aufstrebenden Mittelstand Chinas finanziell halbwegs mithalten will, ist auf Kreativität, Flexibilität und Härte sich selbst und anderen gegenüber angewiesen.
Was zu auffälligen Besonderheiten führt. Von den 16 Mio. Neugeborenen 2011 erblickten 46% dank Kaiserschnitt das Licht der Welt; in Chinas Metropolen 60-80%; wieder Weltrekord. Erklärt wird multifaktoriell: Wunsch der Eltern, das Kind an einem astrologisch oder symbolisch „glücklichen“ Datum punktgenau zur Welt zu bringen; Mangel an Hebammen und Krankenschwestern; last but not least: lukrativere Abrechnung der chirurgischen Leistungen. Laut WHO führt China ebenfalls bei den intravenösen Gaben: Pro Kopf werden p.a. 8 Flaschen intravenöse Lösungen infundiert; weltweit liegt der pro Kopfverbrauch bei 2-3 Flaschen. Die Krankenhausverweildauer fällt mit 10,7 Tagen doppelt so hoch aus wie im internationalen Durchschnitt mit 4,5 Tagen. Die Verordnungen von Antibiotika machen 23% des Krankenhausumsatzes aus - zum Entsetzen der um Resistenzen besorgten Immunologen.
Ein Arztbesuch in China ist teuer; schon ambulant kann er einen halben bis ganzen Arbeitstag und Lohnausfall kosten. 95% aller Chinesen genießen inzwischen eine der gesetzlichen Krankenversicherungen; deren Leistungen sind jedoch unterschiedlich hoch gedeckelt; sie erstatten i.d.R. nur generische Basismedikamente und keine der aufwendigeren Untersuchungen oder Anwendungen. Kostenselbstbeteiligungen zwischen 30-50% sind üblich; importierte oder Markenpräparate müssen die Patienten selber zahlen. Da hilft es nicht, dass Chinas oberstes Gesundheitskontrollorgan, die SFDA, bei bestimmten Chargen der ca. 500 erstattungsfähigen Präparaten aus der „Essential Drug List“ wiederholt schwerwiegende Qualitätsmängel feststellt und vor Verunreinigungen, mangelnder pharmakologischer Stabilität und Fälschungen warnt. Womit bei Arzt und Patient zusätzliches Interesse an den teuren Markenprodukten genährt wird. Als Kostentreiber kommen „dankbare Zuwendungen“ für dringende chirurgische Maßnahmen und stationäre Aufenthalte hinzu. (Siehe Artikel zur Korruption).
Nicht nur die „roten Umschläge“ trüben das Arzt-Patient-Verhältnis. Patienten werfen den Ärzten Inkompetenz, Fehler, Desinteresse, mangelnde Information, Arroganz und Geldgier vor. Ärzte wiederum klagen über Unwissen, zu große Symptomtoleranz, Non-Compliance, unrealistische Heilerwartungen, Misstrauen und Bedrohungen seitens der Patientenfamilien. Die Chinese Hospital Association konstatiert einen Anstieg der physischen Übergriffe von Patienten auf Ärzte je Krankenhaus von 23% per annum: 20,6 (2008) auf 27,3 in 2012. Die Attacken erfolgen mit Fäusten, Knüppeln und Messer, mehrfach im Jahr mit Todesfolge.
Um den wachsenden Patientendruck auf die 1.350 renommierten Krankenhäusern der Kategorie III in den Metropolen zu nehmen, setzt die chinesische Gesundheitsreform auf den Ausbau 660.000 rein ambulanter Versorgungsstationen auf dem Land, 38.000 regionaler Gemeindezentren, 184.000 städtischer Gesundheitszentren und 23.000 Kliniken unterhalb der Maximalstufe. Deren Dienste werden jedoch deutlich unter deren Kapazität nachgefragt. Sie gelten bei den Patienten laut einer PWC-Studie als schlecht ausgestattet, unhygienisch, unfreundlich und nur eingeschränkt medizinisch kompetent. Tatsächlich drängen höher qualifizierte und motivierte Ärzte wegen des Renommees, Fortbildungs- und Verdienstmöglichkeiten ebenfalls in die Topkliniken. Erschwerend kommt ein eklatanter Krankenpfleger/Schwestermangel hinzu. Chinas 2,4 Mio. Ärzten stehen nur 1,6 Mio. Pflegemitarbeiter zur Seite, was sich besonders in der suboptimalen Qualität der stationären Versorgung niederschlägt. Bei dem Gros der lokalen privaten Kliniken handelt es sich um ambulant tätige Einrichtungen, die mit schnellerem Service werben; viele der dort angestellten Ärzte arbeiten dort stundenweise als Zweitjob im Nebenerwerb oder rekrutieren sich aus pensionierten Ärzten. Linderung für die besonders zahlungskräftigen Patienten bieten internationale private Krankenhausbetreiber wie z.B. die Parkway Group aus Singapur oder die Union Hospitals aus Hong Kong. Deren Hospitäler schrauben jedoch eher den Erwartungshorizont von Patienten und Ärzten höher, als dass sie mengenmäßig signifikant das Diagnose- und Therapiegeschehen in China beeinflussen.
Fazit für die Marktforschung unter Ärzten
Ärzte in China sind i.d.R. mäßig bezahlte Angestellte im öffentlichen Dienst; sie unterliegen der Aufsicht der dienstlichen Schweigepflicht und formal auch einer Dienstherrengenehmigung. Sie arbeiten unter großem institutionellem Arbeitsdruck. Chinesische Krankenhäuser sind ausgeprägt hierarchisch geführt. Das Ärzteverhalten ist stark von wirtschaftlichen und ethischen Konflikten geprägt. Während deren Arbeitsbelastung steigt, leiden sie kollektiv an Gesichtsverlust, mangelnder materieller Anerkennung und Beobachtung nicht legaler Praktiken.
Wie ganz China, sind seine Gesundheitseinrichtungen und Leistungserbringer äußerst heterogen: ultramodern bis altbacken, über- oder unterlastet, billig bis teuer. Je nach regionalem Befragungscluster und Versorgungsstufe lässt sich fast jedes (Wunsch-) Ergebnis erzielen. Daher sollte man mit Auftraggeber und Feldorganisation die Quotenvorgaben, Einschluss- und Ausschlusskriterien detailliert absprechen und bei der Realisierung überprüfen, wen man de facto befragt hatte. Erfahrungshintergrund, Motivation, Erreichbarkeit, Antwortneigung und Interviewhonorarerwartungen sind entsprechend. Der Kundenwunsch, hochrangige „ Decision Makers“ oder „Opinion Leaders“ zu befragen, birgt in China besondere Risiken. Denn je höher der Rang, desto seltener haben jene Hierarchieträger direkten und dann selektiven Patientenkontakt - aus den o.g. Gründen nachvollziehbar –. Gut für den arrivierten Arzt, nicht unbedingt für den Marktforscher.
Eine empathisch, freundschaftlich angelegte Befragung, die die Ärzte bei ihren aktuellen Nöten und Zwängen abholt, kann jedoch durchaus auch im Zielthema ergiebig werden. Wegen der vielen tabubehafteten Themen räume ich indirekten Fragen im Sinne von „im Kollegenkreis beobachtete Trends“ realitätsnähere Antworten ein.
* Die Angaben variieren in offiziellen Quellen zwischen 1,8-2,6 Mio., abhängig davon, ob 500.000 Assistenzärzte ohne NMLE- Approbation und 300.000 TCM-Ärzte mitgerechnet werden; Statistical Yearbook of China NBS 2012; WHO 2013 China Health Statistics Yearbook 2013; Swedish Agency for Growth Policy: China’s Healthcare System, 2013; McKinsey Insights November 2012; PEW Research Center, Global Attitudes Project
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