Dr. Christian Holst, holstchristian – Agentur für Marketingberatung und Marktforschung Apparative Verfahren in der Werbewirkungsforschung

Wie apparative Messungen aus alten Leiern neue Hits machen und wie die Analyse beider Seiten – der A- und der B-Seite – erst das große Ganze offenbart, davon singt Dr. Christian Holst ein Lied.

Christian Holst, holstchristian (Bild: Christian Holst)

Dr. Christian Holst, holstchristian - Agentur für Marketingberatung und Marktforschung (Bild: Christian Holst)

 

 

 

Vom Mehrwert neurophysiologischer Methoden in der Werbe-Wirkungsforschung

Stellen Sie sich vor, Sie hätten zuhause einen Schrank voller Schallplatten und einen Plattenspieler. Sie könnten aber immer nur die A-Seite abspielen – was wäre Ihnen da entgangen? Sie hätten zwar Queens "We are the champions" gehört, aber nie "We will rock you", oder Rod Stewarts "Reason to believe", aber nie "Maggie May"... Zum Glück haben sich Dank Streaming-Diensten die Zeiten geändert – was eine A- oder B-Seite ist, spielt heute keine Rolle mehr. Heute schlägt der Algorithmus vor, was als nächstes kommt.

Ähnlich erging es lange Zeit der Werbewirkungsforschung: Die A-Seite war das, worüber Hörer und Seher selber Auskunft geben konnten – was man wann gesehen haben wollte, woran man glaubte, sich erinnern zu können, was man wiedererkannte. Starch-Test, Recall, Day-after-Recall und Varianten davon wurden schon in den 1920er Jahren entwickelt und waren und sind bis heute noch die Arbeitspferde der Wirkungsforschung – über Fragebögen sehr effizient umsetzbar, zu beliebig großen Stichproben kumulierbar, über CATI und Online-Panels auch sehr schnell erhebbar, und schließlich standardisiert auswertbar. Letztlich werden damit bewusste Einstellungen gegenüber der Werbung gemessen: Über die kognitive Dimension (was weiß man über Produkt und Marke, wie beurteilt man diese?), die konative Dimension (was hat man sich angeschaut, was hat man eingekauft, wie wird man einkaufen wollen) und die affektive oder emotionale Dimension (was hat man gefühlt, wie hat man es erlebt?). Diese bewussten Einstellungen gegenüber Marke, Botschaft oder Produkte sind eine bedeutsame Grundlage für Verhaltensintentionen – eben die A-Seite.

Doch mittlerweile scheint die B-Seite den Erfolg der A-Seite zu überflügeln: die Erkenntnis, dass unser Verhalten genauso durch einen automatischen Modus der Verhaltenssteuerung bestimmt wird, der keine bewusste Steuerung braucht und dessen Wirkung von uns oft auch gar nicht bemerkt wird. Das vielzitierte Modell von Daniel Kahnemann nach System 1 ("automatisches System") und System 2 ("reflexives System") ist dabei sicherlich das populärste, aber auch nicht das einzige Modell, das diese beiden Verarbeitungsmodi postuliert. Dies hat dazu geführt, dass die Frage nach der Wirkungsweise und dem Einfluss dieser Automatismen auf die Werbewirkung mittlerweile zum "Common Sense" in der Werbeforschung gehört.

Wenn Befragungen – digital oder analog – das Mittel der Wahl waren und auch noch sind, die bewusste, reflektierte Dimension unserer Verhaltensabsichten zu erfassen, so sind apparative Methoden eine effiziente Möglichkeit, die Formen der nicht bewussten oder automatischen Reaktionen auf Werbestimuli zu messen. Und hier bietet sich mittlerweile ein umfangreiches und erprobtes Arsenal an technischen Möglichkeiten an: Eyetracking, Pupillometrie, Hautwiderstands-, Puls-, Atemfrequenz- und Stimmfrequenzmessung, Facial Coding, EEG bis hin zu Untersuchungen im Hirnscanner mittels funktionaler Magnetresonanztomografie (fMRT). Mit diesen Methoden können wir über alle relevanten Dimensionen der Werbewirkung (Aufmerksamkeit, Affekt, Gedächtnis, Informationsverarbeitung, Produkthandhabung, Einstellungen, Qualität der Werbevorlage, Desirability etc.) ein umfassenderes Bild der Wirkung auch adäquat abbilden, Stärken und Schwächen diagnostizieren und damit für den praktischen Einsatz Hinweise geben, wie diese verbessert werden kann. Apparative Verfahren setzen am Organismus an und messen dessen körperliche Reaktionen. Diese Reaktionen haben den Vorteil, dass sie

  • zeitgleich und synchron zu den dargebotenen Stimuli erfolgen und damit eine direkte Kausalitätsaussage zulassen,
  • physikalisch und damit naturwissenschaftlich "objektiv" gemessen werden,
  • durch die Testpersonen kaum bewusst kontrolliert werden können.

Apparative Verfahren erlauben somit einen Rückschluss auf das direkte Erleben der Personen und dies auf einer Ebene, die diesen möglicherweise gar nicht selber bewusst ist und/oder die sie selber nicht auszudrücken in der Lage sind.

Was passiert, wenn die B-Seite ans Licht kommt

Die Voraussetzung für den Einsatz solcher Methoden ist allerdings, dass eine eindeutige Beziehung zwischen einer gemessenen körperlichen Reaktion einerseits (z. B. Erhöhter Sauerstoffgehalt in Hirnregionen, Veränderung von Hautwiderstand, Herzfrequenz, Pupillengröße) und einem damit zusammenhängenden psychologischen Zustand (z. B. Erregung, Freude, Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung, etc.) hergestellt und begründet werden kann. In vielen Untersuchungen konnten dabei zumindest Korrelationen hergestellt werden. 

Wie hilfreich – und überraschend – Erkenntnisse aus apparativen Verfahren sind, haben wir in einer Vielzahl von Studien am ehemaligen Siegfried Vögele Institut erforscht. Neben der langjährigen Spezialisierung auf Eyetracking konnten wir über einige Jahre hinweg gemeinsam mit dem Bonner Institut Life & Brain auch eine Reihe von Studien im Bereich neurophysiologische Werbewirkung durchführen. Hier kombinierten wir u. a. Befragungen und Eyetracking mit Untersuchungen im Hirnscanner (fMRT) und konnten so die "B-Seite" der durch Befragungen erhobenen Einstellungen aufklären.

In einer der frühesten Studien untersuchten wir beispielsweise die Wirkung von Rabattsymbolen. Befragt man Kunden direkt, so erhält man mehr oder weniger durchweg die Antwort, dass sich kaum jemand durch Rabattsymbole beeinflussen ließe (ähnlich, wie wenn nach der Wirkung von Werbung gefragt wird – auch wir halten uns alle für praktisch immun gegenüber ihren Einflüssen). Trotzdem wird mit Rabattsymbolen erfolgreich geworben, und Studien zeigen auch, dass sie wirken. Aber wie und warum? In unserer Studie konnten wir zeigen, dass, wer Rabattsymbole wahrnimmt, auch erwartet, dass er oder sie belohnt wird – z.B. durch Schnäppchen. Rabattsymbole wirken in dieser Hinsicht wie eine klassische Konditionierung, also ein gelerntes und antrainiertes Verhalten. Darüber hinaus konnten wir auch bei einem Teil der Testpersonen feststellen, dass die Aktivität einer Hirnregion, die bei unserer Selbstkontrolle eine Rolle spielt, gemindert wird. Neben die Konditionierung tritt damit auch ein Effekt, der uns ein Stück weit die bewusste Kontrolle über unser Handeln aus der Hand nimmt. Dieses Verhalten entspricht sicherlich häufig unserer eigenen Beobachtung, aber sicherlich nicht unserem Selbstbild als "rationale" Konsumenten.

Noch deutlicher wurde diese Diskrepanz zwischen geäußerten und gemessenen Verhalten in einer Untersuchung, in der wir die Gestaltung von Werbemailings systematisch variiert haben – durch unterschiedliche Farbwelten, Schrifttypen, Schriftgrößen, Schriftsätze und Unterschriften. In der Befragung sollten die Probanden anhand einer umfangreichen Itembatterie die Werbemittel bewerten. Ganz oben standen "rationale" Kriterien – dass das Werbemittel schnell klar mache, worum es ginge, oder dass es so formuliert sei, dass es jeder verstehe. Eher "emotionale" Kriterien (z. B. dass es Lust mache, sich näher damit zu befassen, oder dass es persönlich anspreche) spielten bei den Bewertungen eine untergeordnete Rolle. Darüber hinaus unterschieden sich diese Ergebnisse kaum danach, welche Gestaltungsvarianten der Mailings vorgelegt wurden. Die Ergebnisse aus dem Hirnscanner offenbarten jedoch ein ganz anderes Bild: Zum einen konnten wir einen deutlichen Einfluss unterschiedlicher Gestaltungselemente nachweisen. Zum anderen aber zeigte sich, dass gut gestaltete Mailings andere Hirnregionen aktivieren, als schlecht gestaltete: Bei Mailings, die als gut gestaltet empfunden wurden, waren Hirnareale aktiviert, die mit der Verarbeitung von Belohnungsregistrierung und Evaluation in Verbindung gebracht werden – also auch hier wieder eine Form der positiven Erwartung. Bei Mailings hingegen, die als weniger gut oder schlecht gestaltet empfunden wurden, waren Hirnregionen aktiv, die auf die Erkennung von Fehlern und Dissonanzen spezialisiert sind. Mit anderen Worten: Während in Befragungen die Likeability oder Anmutung einer Werbung häufig (quasi-)intervall- oder ordinalskaliert erhoben werden und so den Anschein einer durchgehenden Bewertungsdimension von "sehr schlecht" bis "sehr gut" erwecken, scheint die tatsächliche Bewertung eher dichotom zu arbeiten. Ist es eher gut, können Belohnungen erwartet werden, ist es eher schlecht, wird nach weiteren Fehlern oder Inkongruenzen in der Werbung gesucht.

In einer dritten Studie untersuchten wir die crossmediale Wirkung unterschiedlicher Kanäle (Email, Mailing, Email x Mailing) auf Markenimage und -aufbau. Dazu kreierten wir eine neue Marke ("Plusbank") einschließlich Website, Produktportfolio und entsprechenden Kommunikationsmitteln und versendeten einem eigens dafür aufgebauten Probandenpanel über einen Zeitraum von acht Wochen wöchentlich Werbekommunikation. Jeweils vor und nach der Feldzeit wurden die Probanden befragt, und ein Teil der Probanden nach Ende des Tests im Hirnscanner untersucht. Dabei zeigte sich u. a., dass schon nach diesen acht Wochen mit einem vergleichsweise mäßigen Werbedruck bei den Testpersonen ein Markenimage aufgebaut werden konnte, wie es einer bereits etablierten Direktbank entsprach. Besonders interessant ist dabei, dass bei der Verarbeitung von Informationen über die "Plusbank" ein Hirnareal (der sog. Precuneus) beteiligt war, das nur beim Abrufen von persönlichen Erfahrungen (Erinnern) aktiv ist, nicht aber beim generellen Abrufen von Wissen. Mit anderen Worten: Mit einer vergleichsweise einfachen Kommunikation war es gelungen, ein Markenimage aufzubauen, mit dem die Testpersonen anscheinend auch persönliche Erfahrungen und mentale Bilder verbanden – eine Wirkungsdimension, an die wir über klassische Befragungen vermutlich nie herangekommen wären.

An dieser Stelle müssen wir natürlich zugeben, dass eine Werbewirkungsforschung mittels funktioneller Magnetresonanztomografie eher in den Bereich der Grundlagenforschung gehört als zur taktisch-operativen. So sind die eingesetzten Geräte in erster Linie für medizinische Diagnostik konstruiert und ihre Bedienung und vor allem die Analyse der gewonnen Daten setzt ein sehr hohes Maß an Spezialistenwissen voraus, das weitab vom Feld der gängigen Marktforschungsausbildung angesiedelt ist. Gleiches gilt aber auch beim Einsatz von EEGs, und – wenn man die ganze Bandbreite der verfügbaren Möglichkeiten ausschöpfen will – des Eyetrackings. Darüber hinaus sind die so gewonnene Daten nur so gut, wie sie im Rahmen von Theorien – i.d.R. (sozial-)psychologischen – interpretiert werden. Ein Nebeneinanderstellen von "leuchtenden" Hirnarealen oder Heatmaps aus Eyetrackingdaten ist auch taktisch-operativ belanglos, wenn sie nicht über Hypothesen und Theorien Wirkzusammenhänge aufdecken. Wenn aber Marktforscher und Spezialisten solcher apparativen Methoden theoriegeleitet zusammenarbeiten, ergeben sich neue Forschungsfelder, die das Wissen über die Werbewirkung deutlich weiter ausbauen werden – und damit die B-Seite hitverdächtig werden lassen.

Zur Person: Dr. Christian Holst ist Inhaber von holstchristian – Agentur für Marketingberatung und Marktforschung i.G. Er forscht und berät zu Werbewirkung und Neuromarketing. Zur Zeit beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema Consumer Journey und der Frage, wie Kunden ein umfassendes Journey-Erlebnis ermöglicht, und wie dies effizient gemessen werden kann.

 

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