Altern in China

Von Matthias Fargel
China wirkt jung. Dennoch ist China das erste Land der Welt mit aktuell mehr als 200 Mio. Einwohnern über 60 Jahren. Das sind mehr Senioren als die Gesamtbevölkerung Japans, Russlands oder Brasiliens. 163 Mio. Chinesen haben das 65. Lebensjahr überschritten. Die über 60 Jährigen machen derzeit knapp 15% der Bevölkerung aus. Ihre Zahl wird sich bis 2050 auf 480 Mio. mehr als verdoppeln und die Einwohnerzahl der USA überflügeln. Zwar spielen Chinas graue Panter keine Rolle als Wählerklientel für die Politik, jedoch umso mehr als Nutzer öffentlicher Infrastruktur und Verbraucher. Der Markt für seniorenorientierte Produkte und Dienstleistungen beläuft sich 2014 auf geschätzte 4 Billionen RMB, was ca. 8% des BSP entspricht*. Dabei steht Chinas „Silver Market“ erst auf den unteren Sprossen der Entwicklung. Mit anderen Worten: Da geht noch einiges an Geschäft, für entsprechend spezialisierte Dienstleister, Hersteller – und Marktforscher.
Höchste Zeit, sich die chinesischen Senioren näher anzusehen. Zumal sie sich von den Gleichaltrigen anderer Länder, auch Ostasiens, unterscheiden und sich deutlich anders verhalten als jüngere Chinesen. Chinesische Sozial- und Marktforscher unterteilen die Generationen nach zwei markanten Jahreszahlen. Vor 1960 und nach 1980 Geborene. Weitgehend unabhängig davon, ob man sich mit dem Sozial-, Verbraucher- oder Arbeitsmarktverhalten in der VR China befasst.
Bewohner der VR China, die vor 1960 zur Welt kamen, wuchsen in Armut mit ähnlich niedrigem Lebensstandard für fast alle auf. Ihre Sozialisation war geprägt von Uniformierung, militärischem Drill und Härte, Patriotismus, rotem Idealismus und Solidaritätsanreizen. Sie waren weitgehend vom Ausland abgeschnitten und unterlagen dem strikten Haiku-System, das die innerchinesische Mobilität stark beschnitt. Als „Maos blaue Ameisen“ karikiert, lernten sie Planwirtschaft und dem Diktat der Partei zu gehorchen; dafür durften sie staatlicher Fürsorge in Form der „eiserner Reisschale“, lebenslanger Beschäftigung in Staatsbetrieben, zugeteilten Wohnungen und gesicherter Altersfürsorge vertrauen. Eine kärgliche Stabilität, die mit der Kulturrevolution (1966-76) zu Ende ging. Die Kulturrevolution beraubte sie um Bildungschancen, unterbrach Berufslaufbahnen, zersetzte Vertrauen in Institutionen, Kollegen und Nachbarn, denunzierte alles Althergebrachte, wie Familienwerte, Religion und selbst schmales Eigentum. Die Schrecken der Kulturrevolution haben die chinesischen Senioren nachhaltig traumatisiert.
Die ab 1980 aufkeimende Marktwirtschaft, allmähliche Umstellung von Warenzuteilung in Konsumoptionen, schrittweise Entsolidarisierung, Ende der Versorgungssicherheit, aufkommende Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft, diverse Marken und Modetrends sind vielen der vor 1960 Geborenen bis heute wesensfremd. Jene Vor-1960-ziger bilden aktuell den harten Kern der chinesischen Traditionen und Tugenden: Für sich selbst genügsam und öffentlich zurückhaltend; autoritätsgläubig, primär den familiären Pflichten zugewandt; sicherheitsorientierte Sparer und hartnäckige Skeptiker (siehe Artikel „Her mit eurem Erspartem“). Sie kaufen hauptsächlich preisorientiert, ohne Neigung zu Markenartikel und Fertigprodukte. Körperpflegeprodukte und Modisches für sich selbst interessieren sie i.d.R. wenig. Sie gehen am liebsten täglich einkaufen; bevorzugen Frische vor Convenience; die täglichen Besorgungen und der Einkaufsweg bieten für sie wichtige soziale Kontaktchancen. Ihre regionale Mobilität ist insgesamt eher gering; die wenigsten haben ein Auto – und werden auch keines mehr für sich selbst kaufen. Es ist eine im internationalen Vergleich mittellose Seniorengeneration. Denn es gibt in der VR China kaum „altes Geld“, das die Alten für sich verprassen oder an die heute Jüngeren vererben könnten – mit Ausnahmen der wenigen „Roten Zaren“. Chinas private Vermögen sind erst nach 1980 von mutigen Geschäftsleuten, findigen Militärpotentaten und raffinierten Verwaltungsbeamten aufgebaut worden.
Chinas Rentner sind vergleichsweise jung. Abhängig beschäftigte Frauen scheiden mit 55, Männer mit 60 Jahren aus dem Berufsleben; für Landarbeiter, Staatsbedienstete und Selbständige bestehen je nach Provinz abweichende Regeln; d.h. einige gehen schon mit 50 aufs Altenteil. - Diese niedrigen Berufsaltersgrenzen stammen aus den fünfziger Jahren, als die statistische durchschnittliche Lebenserwartung in China noch 40 Jahre betrug; sie ist heute (trotz angeprangerter Umweltverschmutzung; Lebensmittelskandale und mörderischen Straßenverkehrs) auf 74 Jahre angestiegen. Entsprechende Anpassungen der Verrentungsaltersgrenzen stehen auf der politischen Agenda, sind aber noch nicht umgesetzt. - Auf das Gros der jüngeren Rentner warten jedoch nicht üppige Freizeit, Hobbies und Reisen, sondern tagesfüllende Aufgaben als de facto erziehende Großeltern von über 70% der Vorschulkinder, oder ein neuer Gelderwerb, um die schmale Rente und sozialen Kontakte aufzubessern. Unentgeltliche Ehrenämter außerhalb familiärer Verpflichtungen sind noch nicht allgemeiner Usus unter chinesischen Rentnern.
Neben traumatisierten Biographien und früher Verrentung prägt zusätzlich das traditionelle Rollenverständnis der Alten diese Kohorte. Nach klassischer Anschauung ist ein in Würde gelebtes Alter durchaus ein erstrebenswertes Lebensziel. Die konfuzianische Auffassung lehrt, es ist Aufgabe der Kinder, sich um die Eltern und Alten zu kümmern; sowohl finanziell als auch sozial. Demzufolge bedeutet Altern prinzipiell eine Ehre, die mit erstrebenswerten sozialen Privilegien verbunden ist; allem voran legitime Respektsbezeugungen der Jüngeren und hohes Ansehen innerhalb der Familie. Alte Lehrmeister werden in China bewundert; seien es gelenkige Shaolin-Kung-Fu-Meister; ehrwürdige TCM-Ärzte und Apotheker, „Elder Statesmen“ oder Autoren klassischer Schriften. Junge Chinamanager greifen selbstverständlich auf Texte alter Meister wie „Die Kunst des Krieges“ oder die „36 Strategeme“ zurück (siehe Artikel „Chinas 36 Strategeme“). Für jüngere Manager ist ein patriarchalisch-feudaler Führungsstil keine überholte, sondern eine von alters her bewährte Führungsmethode in China und Teil des Repertoires.
Die Aktualität zeichnet jedoch auch andere Facetten des Alterns in China. 2013 wurde das Gesetz „Protection of the Rights and Interests of the Elderly People“ erlassen. Damit hat man die moralische Verpflichtung zur Fürsorge zu einem Zeitpunkt juristisch kodifiziert, zu dem wegen Arbeitsmigration der Jüngeren, wachsender räumlicher und kultureller Distanz zwischen den Generationen die Gefahr offensichtlich wurde, dass Alte verarmt und vereinsamt, oft in der Provinz, zurückgelassen werden. Landesweit leben 2/3 aller über 65-Jährigen bei Angehörigen; in den Großstädten jedoch nur noch knapp die Hälfte. Die Versorgung alleinstehender und pflegebedürftiger Senioren ist aktuell eines der heißesten sozialpolitischen Themen in China. Altengerechte Infrastruktur im Wohnungsbau und Verkehrsmittel, Seniorenheime, ambulante wie stationäre Pflegedienste und entsprechende Versicherungen sind erst im Entstehen. Am entwickeltesten ist der Seniorenmarkt für Stärkungsmittel; meist aus der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) abgeleitete Nahrungs- und Nahrungsergänzungsmittel. Solche Produkte gelten als die typischen und angemessenen Geschenke für die Großelterngeneration. Jeweils am 9.9. nach dem chinesischen Kalenderjahr gerechnet (2014 am 2.Oktober), dürfen sich die Alten mit dem Chongyang-Fest feiern lassen und werden dann mit Chrysanthementee, Chrystanthemenwein und geschenkter warmer Kleidung von ihren Kindern winterfest gemacht.
Seit dem Jahrgang 1980 wächst eine wesentlich anspruchsvollere, künftige Seniorengeneration heran. Es sind die Kinder des chinesischen Wirtschaftswunders, mit ganz anderen Erfahrungen, Leitbildern und Verhaltensmuster. Sie werden sich von der nächsten Generation nicht mehr mit einer gesteppten Winterjacke und einer schönen Schachtel mit Heilkräutern zum 9.9. zufrieden geben. Dazu ein anderes Mal.
* China Daily, 25.9.2
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