Holger Geißler Als ob es einen Sieger geben könnte

Holger Geissler (Bild: Alex Schelbert)
Die Fußballer scheiterten als Titelverteidiger historisch bereits in der Vorrunde der WM in Russland und konnten nur ein Pflichtspiel gewinnen.
Für die Marktforscher startete 2018 denkbar schlecht. Es ging los mit der SPIEGEL-Reportage über die "Akte Marktforschung" und dem Vorwurf, dass bei Umfragen getäuscht, getrickst und manipuliert wird. Und dann, Ende September, veröffentlichte die taz einen Bericht über die Beschwerde einiger Marktforscher beim Presserat über eine Focus-Umfrage des Berliner Start-up Civey, der sich nun das Wiederaufleben der Diskussion über "Repräsentativität" anschließt.
Konnten die Fußballer wenigstens ein Pflichtspiel im Kalenderjahr gewinnen, so fragt man sich, ob die Marktforscher an irgendeiner Stelle punkten konnten. Selbst neutralen Beobachtern dürfte es schwerfallen, positive Zeichen dafür zu entdecken, dass die beiden großen Diskussionen der Marktforschungsbranche in irgendeiner Art und Weise geholfen hätten. Zwar haben die vom SPIEGEL entlarvten Institute mittlerweile Insolvenz angemeldet, aber außer einigen Pressemitteilungen ist von Seiten der Verbände wenig passiert, um verlorenes Terrain wiedergutzumachen. Die Diskussion über die Qualität der Marktforschung trifft die Branche zur Unzeit. Durch die Digitalisierung verfügen immer mehr Unternehmen über eigene Daten. Liegen keine Daten vor, werden die mal schnell mit DIY-Software erhoben. Die Daten- und Befragungs-Monopole der Institute sind Vergangenheit. Die Relevanz der Branche ist gefährdet.
Und jetzt diskutieren wir also mal wieder über "Repräsentativität". Es gibt offene Briefe und Stellungnahmen des ADM, der DGOF und des BVMs. Die große Frage ist, warum erst jetzt? Der ADM schreibt z.B. "Seit einiger Zeit nehmen wir mit großer Sorge wahr, dass in Zeitungen und Zeitschriften, in Radio- und Fernsehberichten sowie in der Onlineberichterstattung Umfrageergebnisse vermehrt als repräsentativ bezeichnet werden, auch wenn diese nicht repräsentativ sind." Welchen Zeitraum bezeichnet dabei der Ansatz des Satzes: "Seit einiger Zeit…"? Die letzten 10 Jahre? Etwa so lange dürfte es her sein, dass YouGov die ersten Umfragen im YouGov Online-Panel zu Landtagswahlen veröffentlicht hat. Und es ging damals nicht darum die Wahlabsicht der Onliner vorherzusagen.
Die Argumente, die heute angeführt werden, sind zurecht die gleichen Argumente wie anno Oktober 2000, als die erste Richtlinie für Online-Befragungen erschien: Jeder muss eine berechenbare Chance haben, in die Stichprobe zu gelangen, ganze Bevölkerungsgruppen fehlen online, deshalb kann das nicht repräsentativ sein. Das ist jetzt 18 Jahre her. Warum diskutieren wir immer noch über die gleichen Themen wie damals?
Hätte sich mein Sohn, 2002 geboren, so entwickelt wie die Diskussion um Repräsentativität, würde er noch Babygrößen tragen. Glücklicherweise trägt er Konfektionsgröße L.
Die Argumente, die damals und heute vorgetragen wurden, sind unbestreitbar richtig. Aber bringen uns diese Argumente in irgendeiner Hinsicht weiter?
Die Diskussion, die wir seit nunmehr 18 Jahren führen, hat einen Fehler: Wir führen diese Diskussion immer noch so, als ob eine Methode am Ende als Sieger den Platz verlassen könnte. Und weil wir diese Diskussion so führen, dauert diese Diskussion immer noch an und wird auch mit diesem Themendossier nicht beendet werden. Wir zanken uns darüber, warum online nicht repräsentativ sein kann, das die Rücklaufquoten bei telefonischen Umfragen so niedrig sind, warum bei F2F-Interviews so viel gemogelt wird. Jede Methode will Recht behalten. Aber bei genauem Hinschauen hat jede Methode deutliche Schwächen, wenn es um Repräsentativität geht. Und jeder Praktiker und Marktforscher weiß das auch.
Wir sind als Marktforschungsbranche in dem Dilemma, dass von uns gefordert wird, repräsentativ zu arbeiten, die adäquaten Methoden aber nicht mehr zeitgemäß sind. Zeitgemäß bedeutet in diesem Fall: "bezahlbar" und "Ergebnisse in wenigen Tagen".
Stellen wir uns vor, ein fiktives politisches Wochenmagazin möchte repräsentativ herausfinden, welcher Kandidat um den CDU-Vorsitz beim Volk am besten ankommt. Würde das Magazin den wissenschaftlich-korrekten Weg einer Zufallsstichprobe mit der vermeintlich besten Methode wählen, dann wäre der günstigste und schnellste Weg vielleicht der Face-to-Face-Omnibus von IfD Allensbach (ganz genau kann ich das nicht sagen, da auf deren Homepage detaillierte Angaben dazu fehlen). Die Ergebnisse hätte er dann nach ca. vier bis sechs Wochen. In dieser Zeit hätte es ca. 20 andere Umfragen mit mehr oder weniger repräsentativen Quoten- oder willkürlichen Stichproben via Telefon- und Online-Umfragen gegeben und der Nachrichtenwert der eigenen Umfrage für das Wochenmagazin läge bei null. Wir können jetzt als Branche das Magazin ob seines vorbildlichen Vorgehens loben, die anderen Medien schelten wegen der Unwissenschaftlichkeit. Wem hilft das? Das Magazin hätte wahrscheinlich das erste und letzte Mal eine solche Umfrage in Auftrag gegeben, weil alle anderen Medien weniger bezahlt haben und schnellere Ergebnisse hatten. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit wären die Ergebnisse noch nicht mal unterschiedlich ausgefallen.
Werden wir als deutsche Marktforscher die "mediale Sucht" nach immer mehr Umfragen stoppen, in dem wir aufhören, sie zu bedienen? Werden wir als deutsche Marktforscher Unternehmen dazu rückerziehen können, wieder zwei bis drei Monate auf repräsentative Ergebnisse aus der Marktforschung zu warten?
Ich halte das für ein aussichtsloses Unterfangen, die Zeit zurückdrehen zu wollen. Wenn wir Marktforscher den Auftrag nicht bedienen wollen, findet sich jemand anders. Die Nachfrage-Seite für Marktforschung hat sich in den 18 Jahren verändert, auch wenn wir als Branche bei der Frage der Repräsentativität kein Stück weitergekommen sind. Deshalb bleibt uns als Branche nur eines übrig: Wir müssen schleunigst die Frage beantworten, wie wir zukünftig zeitgemäß repräsentativ befragen können.
Eine Initiative dazu kann nur von den Verbänden ausgehen, da einzelne Institute immer Partikularinteressen besitzen. Und diese Diskussion muss methoden-offen und undogmatisch geführt werden. Man wird einiges ausprobieren und testen müssen. Verheißungsvolle Ansätze gibt es ja durchaus, wenn man offen dafür ist, sie zu erkennen.
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