Interview mit Susan Shaw zur GOR-Keynote am 8. September „Aktuell würde ich Gruppendiskussionen oder auch Co-Creation Workshops wieder physisch durchführen“

Susan Shaw von der GIM Suisse wird am 8. September eine viel erwartete Keynote bei der diesjährigen GOR-Konferenz in Berlin halten. Wir sprachen im Vorfeld mit ihr über das Thema “New Digital Possibilities in Qualitative Research" und die Frage, welche Entwicklung die Qualitative Forschung durch die Corona-Pandemie erlebt hat.

Susan Shaw im Interview zur GOR

Ihre Daily Keynote am 8. September läuft unter dem Titel “New Digital Possibilities in Qualitative Research“. Was können Sie den fachkundigen Online-Forschern Neues sagen?

Susan Shaw: Die Pandemie hat zweifellos einen Digitalisierungsschub in der qualitativen Forschung bewirkt. Nun sind wir noch kein Jahr aus der Krise heraus und das gesellschaftliche Leben hat sich wieder einigermaßen eingependelt. Trotzdem haben sich viele Gewohnheiten bei den Konsumentinnen und Konsumenten verändert und neu etabliert. Ich möchte darüber sprechen, was für Auswirkungen das New Normal für die qualitative Forschung hat und haben wird.

Welche Herausforderungen stellen diese Möglichkeiten und Veränderungen an uns Qualiforscher und -forscherinnen?

Jetzt, wo wir nicht mehr digital müssen, sondern dürfen, müssen wir uns überlegen, was uns die Entwicklungen bringen und wie wir sie in ein sinnvolles und effizientes Methodenportfolio für unsere Kunden implementieren.

Das betrifft zunächst die Seite der Datenerhebung.

Daneben möchte ich auch auf die Digitalisierung bei der Analyse und Auswertung von qualitativen "Daten" eingehen. Ob hier alles komplett neu für das fachkundige Publikum sein wird, ist zu bezweifeln, aber wenn ich relevante Fragen aufwerfen und eine Diskussion in Gang bringen kann, freut mich das.

Die Corona-Pandemie war auch für die Quali-Forschung ein echter Gamechanger. Gezwungenermaßen mussten von heute auf morgen Gruppendiskussionen, Tiefeninterviews und Co. rein digital stattfinden. Wie gut hat das funktioniert?

Susan Shaw: Ich war tatsächlich erstaunt, wie gut es zum Teil funktioniert hat. Die Methoden der Online-Gruppendiskussionen und Tiefeninterviews gab es ja bereits vorher.

D. h. die Forscherinnen und Forscher waren relativ gut vorbereitet, nun mussten noch die Gesprächspartner und -partnerinnen sowie Kunden mitmachen.

Zu der Zeit mussten ja auch sehr viele andere Sachen im Leben digital stattfinden, sodass sich die Beteiligten gezwungenermaßen gewöhnten. Schwieriger war es bei Projekten, die viel Zeige-Material beinhalteten oder auch bspw. eine Verpackung oder ein Gerät vor Ort getestet werden musste. Bei diesen Projekten brauchte es viel konstruktiven Improvisationswillen, der aber grundsätzlich immer von allen Seiten vorhanden war.

Was sind denn besonders entscheidende Vorteile und Mehrwerte, die die Digitalisierung der qualitativen Forschung mit sich bringt?

Susan Shaw: Bei der Datenerhebung ist ein großer Vorteil, dass es nach der Pandemie eigentlich fast keine Zielgruppen mehr gibt, die sich nicht für qualitative Online-Befragungen oder bspw. für einen mobile Pre-Task eignen.

Zudem können die Interviews oder Gruppen geografisch sehr breit gestreut sein, ohne zusätzliche Räumlichkeits- oder Reisekosten. Die Kunden können die Interviews bequem von ihrem Rechner aus beobachten. Dies auch, wenn die Interviews im Studio stattfinden. Bei der Auswertung hilft uns die Digitalisierung, Schwerpunkte zu finden, Beurteilungsmuster zu erkennen oder Fleißarbeit und somit Zeit und Geld zu sparen. Es gibt aber auch einige Watch-outs, denen wir uns als Qualiforscher und -forscherinnen bewusst sein müssen, damit wir die Kontrolle behalten.

Wir kennen es sicherlich alle: Das Internet will mal wieder nicht, der Ton ist miserabel oder die Kamera funktioniert nicht. Inwieweit schränken Probleme mit der Technik die digitale Quali-Forschung ein?

Susan Shaw: Klar, das kommt vor. Eine gute Vorbereitung, verständliche Instruktionen bei der Rekrutierung, einfache, kompatible und stabile Tools und immer einen Technik-Support dabei helfen schon sehr. Die Ausfallquote aufgrund von Technik ist aus meiner Sicht seit dem Beginn der Pandemie stark gesunken.

Insbesondere Senioren sind häufig nicht sehr affin mit digitalen Medien und besitzen nicht die notwendigen technischen Mittel. Wie wird mit dieser Problematik umgegangen?

Susan Shaw: Dem muss ich widersprechen. Auch diese Personen haben in der Pandemie gelernt, mit ihren Enkeln oder mit dem Chor digital zu kommunizieren. Oft waren diese Zielgruppen auch sehr gut vorbereitet, haben die Tests gemacht und die Instruktionen genau durchgelesen, was Jüngere, digital-affinere, weniger gewissenhaft gemacht haben.

Über einen Bildschirm ist es für den Moderator sicherlich nicht so einfach, eine Bindung und Vertrauen zu den Interviewten aufzubauen wie in persönlichem Kontakt. Öffnen sich die Teilnehmenden dann nicht weniger als im Face-to-Face-Setting?

Susan Shaw: Ja, das stimmt, allerdings sitzen die Personen jeweils in ihren vertrauten vier Wänden und nicht in einem Studio. Dies hat meines Erachtens einen nicht zu verachtenden Effekt. Wir haben das mitunter genutzt und die Personen gebeten, persönliche Gegenstände in die Kamera zu halten und sich damit persönlich vorzustellen oder ein Thema damit einzuleiten. So kommen das Vertrauen und die Bindung auch gut zustande. Das war zum Teil auch das Paradoxe der Situation, wir sind weit von den Personen entfernt und nur über einen Bildschirm verbunden, blicken aber in ihre Wohnzimmer rein.

Lässt sich qualitative Forschung eines Tages zu 100 Prozent im digitalen Raum durchführen? Oder gibt es Bereiche, in denen nur traditionelle Methoden funktionieren?

Susan Shaw: Aktuell würde ich Gruppendiskussionen oder auch Co-Creation Workshops oder Innovations-Workshops, wenn möglich, wieder physisch durchführen.

Die Elemente, welche eine Gruppendiskussion aus methodischer Sicht rechtfertigen, die Gruppendynamik, das gegenseitige Anregen und Argumentieren kommen mit den heutigen digitalen Mitteln zu kurz.

Es kommt aber darauf an, ob und wie stark sich unser Leben generell eines Tages im digitalen Raum abspielen wird. Wenn wir von unseren Gesprächspersonen etwas lernen und verstehen wollen, was sie antreibt, was sie motiviert, was sie behindert oder was sie sich wünschen würden, dann müssen wir sie in ihrem jeweiligen Kontext abholen. Als Qualiforscherin bin ich also immer auch etwas an die Geschwindigkeit des gesamtgesellschaftlichen digitalen Wandels gebunden.

Welche Rolle werden hybride Ansätze, die traditionelle und digitale Tools kombinieren, in der Zukunft spielen? Ist dies der beste Weg, um das Beste aus beiden Welten zu vereinen?

Susan Shaw: In hybriden Ansätzen sehe ich viel Potenzial, das Beste von beiden Welten zu vereinen. Es gilt in Zukunft noch genauer zu überlegen und zu argumentieren, für welche Fragestellung welche Methode am zielführendsten ist. Das mussten wir schon immer. Es wird nun aber mit den zunehmenden Möglichkeiten komplexer. Wir werden wegkommen von der Frage Qual- oder Quant, sondern ist ein Pre-Task kombiniert mit Online-Interviews, eine Community mit anschließender Fokusgruppe, eine Online-Befragung inklusive Video- oder Sprachaufnahmen, die richtige Methode, um die Fragestellung des Kunden optimal und effizient zu beantworten.

Ob KI oder Metaverse, es gibt in diesen Zeiten viele prägende Entwicklungen. Welcher Trend hat Ihrer Meinung nach besonders großes Potenzial für die Zukunft digitaler Quali-Forschung?

Susan Shaw: Die Entwicklung des Metaverse bringt uns auf jeden Fall eine breite Palette von vielen neuen Forschungsfragen und -möglichkeiten. Wir untersuchen bei der GIM gerne auch die Einstellung der Bevölkerung zu solchen Trends und neuen Entwicklungen, um unseren Auftraggebern die Hoffnungen und Befürchtungen der breiten Masse zu erklären.

Wenn sich das wirklich etabliert, werden sich neue Forschungszweige wie damals die Social Media-Forschung etablieren und wer weiß, vielleicht befragt dann der GIM Avatar das Verhalten, die Bedürfnisse, die Motive etc. des Zielgruppen-Avatars.

Die Entwicklungen im Bereich KI finde ich enorm spannend und sie werden sicherlich noch viele neue Möglichkeiten bringen. Qualitative Forschung basiert auf gesprochener Sprache und auf Emotionen, auf einer Reihe von Aussagen zu einem Thema oder zu Bildern und Videos.

Hier sehe ich großes Potenzial. Transkripte werden besser, Übersetzungen werden besser, auch Emotionen werden immer besser messbar, was uns bei der Qualitativen Forschung sicherlich helfen kann. Wie schon erwähnt, gibt es aber aus meiner Sicht neben vielen Chancen auch Watch-outs. Die vielen Tools und Möglichkeiten müssen sinnvoll, valide und zielführend eingesetzt werden, damit wir Forscher und Forscherinnen immer noch das Ruder in der Hand behalten.

 

Über die Person

Susan Shaw ist Geschäftsführerin bei GIM Suisse. Sie absolvierte einen Abschluss in Geschichte, Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Sozialforschung. Seit ca. 20 Jahren ist Shaw in der Marktforschung auf Kunden- und Institutsseite tätig. Über zehn Jahre arbeitete sie in der betrieblichen Marktforschung eines großen Verlagshauses der Schweiz. Von 2015 bis 2021 war Shaw Präsidentin von SWISS INSIGHTS, dem Schweizer Branchenverband, von 2010 bis 2013 Mitglied der Forschungskommission der WEMF.

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