Kolumne von Prof. Dr. Dirk Lippold Absatzorganisation: Marketing oder Vertrieb – wer hat das Primat?

Marketing und Vertrieb führen entgegen der ursprünglichen Lehre in der Praxis häufig ein getrenntes Eigenleben – sowohl bezogen auf die Organisation als auch die Denkhaltung. Woran sich diese Entwicklung zeigt und wo Schnittstellen liegen (sollten), beschreibt Prof. Lippold in seiner aktuellen Kolumne.

‚Marketing‘ und ‚Vertrieb‘ sind zwei Reizwörter, wenn es um die Zuordnung um Verantwortlichkeiten im Absatzbereich geht. Wie sieht die Trennung zwischen den Unternehmensbereichen Marketing und Vertrieb in der Praxis eigentlich aus? Wer hat das Primat? Haben sich durch die digitale Transformation Veränderungen in der Zuordnung ergeben? Welche Aufgaben werden vom Marketing-Management und welche vom Vertrieb wahrgenommen? Und wo ist die interne Marktforschungsabteilung angesiedelt? Selbst Management-Guru Michael E. Porter spricht bei seiner wegweisenden Prozesskettenanalyse immer nur von ‚Marketing/Vertrieb‘ im Doppelpack. 

Porter: Marketing/Vertrieb im Doppelpack 

Wenn es nach den einschlägigen  Marketing-Lehrbüchern  geht, dann gäbe es diese Trennung gar nicht. Warum? Nun, die Marketing-Lehre beansprucht mit ihrem Instrumentarium die vier Politikfelder, also Produkt-, Preis-, Kommunikations- und eben Vertriebspolitik, für sich. Danach ist der Vertrieb also Teil des Marketings. Dennoch hat sich diese Lehrmeinung in der Praxis nicht durchgesetzt. Im Gegenteil, ganz besonders im B2B-Bereich dominiert der Vertrieb in aller Regel das Marketing.  

Vorzeigeunternehmen IBM mit anderer Ausrichtung 

Mit einer mir bekannten Ausnahme: In den 1980er Jahren, als der Marketing-Begriff so richtig Fahrt aufnahm, zog IBM als seinerzeit weltgrößter Hardwarehersteller alle seine absatzseitigen Ressourcen zusammen und unterstellte diese der Marketing-Leitung, die zugleich auch Mitglied des Vorstandes bzw. der Geschäftsführung war. IBM praktizierte damit zugleich auch den Anspruch an das  Marketing als marktorientierte Unternehmensführung  und beförderte kurze Zeit später den Marketing-Chef zum Vorsitzenden der deutschen IBM-Geschäftsführung. So gesehen war hier die Marketing-Welt noch in Ordnung. 

Allgemeine Abgrenzungsversuche nur unter Vorbehalt 

Zugegeben, pauschale Abgrenzungsaussagen zwischen Marketing und Vertrieb lassen sich immer nur unter Vorbehalt treffen, denn zu vielfältig sind die Ausprägungen der Bestimmungsfaktoren (Branche, Unternehmensgröße, Kundenstruktur etc.) für die individuelle Organisationsentwicklung. So kennen viele Dienstleistungsunternehmen (z.B. Unternehmensberatungen) gar keinen institutionellen Vertrieb. Hier wird die Akquisition (von Projekten) aus den Leistungs- beziehungsweise Fachbereichen heraus wahrgenommen. 

Marketing auf dem Rückzug zur reinen Denkhaltung 

Fest steht jedoch, dass sich Marketing mehr als  Denkhaltung  und weniger als absatzorientierte Organisationseinheit etabliert hat. Das  institutionelle Marketing  ist vielerorts zur reinen  Werbe- oder Kommunikationsabteilung  degradiert. Viele marktstrategische Themen gehen heute am Marketing-Management vorbei. Speziell eingerichtete Stabsabteilungen, Strategieberater, Inhouse Consultants, Task Forces oder die Geschäftsführung selber haben vielfach die Federführung bei marktstrategischen Projekten übernommen. Dagegen sitzt der Vertrieb mit seiner Verantwortung für Lead-, Opportunity- und Relationship-Management fester denn je im Sattel. 

Marketing-Gleichung bietet Hilfestellung 

Um zu erkennen, wo im Einzelnen die Schnittstellen zwischen Marketing und Vertrieb liegen (sollten), ist es hilfreich, die  Aktionsfelder der Wertschöpfungskette  Marketing/Vertrieb zu analysieren. Dazu bietet es sich an, nicht das statische Modell der vier Ps (Product, Price, Place, Promotion), sondern die  Marketing-Gleichung  mit ihrer Prozesskette Segmentierung, Positionierung, Kommunikation, Distribution, Akquisition und Betreuung unter die Lupe zu nehmen und nach dem Schwerpunktprinzip entweder dem Marketing- oder dem Vertriebsmanagement zuzuordnen (siehe Abbildung). 

Während die strategischen Prozesse der Segmentierung und Positionierung zumeist in der Geschäftsführung (teilweise mit externer Unterstützung von Beratern oder (hoffentlich!) des Marketings) behandelt werden, liegen die operativen Marketingaufgaben (z.B. mit dem Kommunikations-, Kampagnen- und dem Event-Management) vollständig in der Verantwortung der Marketingleitung. Das Lead-, Opportunity- und Kundenmanagement ist – mit Unterstützung der Key-Account-Manager – wiederum der Gesamt-Vertriebsleitung zugeordnet. Die (interne) Marktforschung schließlich ist Teil der Segmentierungsfunktion und damit eindeutig dem Marketing- und nicht dem Vertriebsmanagement zugeordnet. 

Faustregel oft zu kurz gegriffen 

Somit ließe sich als Faustregel festhalten, dass das Marketing in der Regel ein anonymes Verhältnis zu den Firmenkunden hat, während der Vertrieb grundsätzlich den direkten Kundenkontakt sucht. Doch angesichts des digitalen Wandels scheint auch diese Faustregel als zu pauschal angesetzt, denn über die verschiedenen Online-Kanäle im Absatzbereich, ergeben sich auch automatisch direkte Kundenkontakte durch das Marketing. 

Abnutzungserscheinungen  

In Zeiten der „Political Correctness“ und der Nachhaltigkeit weist der Marketing-Begriff als Denkhaltung allerdings zunehmend stärkere  Abnutzungserscheinungen auf. Immer häufiger wird das unternehmerische Marketing zum Gegenspieler des Verbraucherschutzes und der Nachhaltigkeitsverbände hochstilisiert, so dass dann viele Unternehmen meinen, mit dem „wertfreien“ Vertriebsbereich, in dem dann das Marketing in Form der Kommunikationsabteilung ein- bzw. untergeordnet ist, besser leben zu können. 

Trotzdem wird uns das Marketing, das seinen Ausgangspunkt im unternehmerischen Engpassdenken und der Befriedigung der Kundenwünsche hat, wenn auch immer weniger als institutioneller Rahmen, so doch als umfassendes Denk- und Handlungskonzept erhalten bleiben. 

Das Buch zum Beitrag: 

Lippold, D.: Marktorientierte Unternehmensführung und Digitalisierung – Management im digitalen Wandel, 2. Aufl., Berlin/Boston 2021 

Täglicher Newsletter der Insightsbranche

News +++ Jobs +++ Whitepaper +++ Webinare
Wir beliefern täglich mehr als 9.000 Abonnenten
 

Über die Person

Prof. Dr. Dirk Lippold ist Dozent an verschiedenen Hochschulen. Seine Lehrtätigkeit umfasst die Gebiete Unternehmensführung, Marketing & Kommunikation, Personal & Organisation, Technologie- und Innovationsmanagement sowie Consulting & Change Management. Zuvor war er viele Jahre in der Software- und Beratungsbranche tätig – zuletzt als Geschäftsführer einer großen internationalen Unternehmensberatung. Auf seinem Blog www.dialog-lippold.de schreibt er über aktuelle betriebswirtschaftliche Themen.

Diskutieren Sie mit!     

Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de