Natacha Dagneaud, Séissmo Neun Wahrheiten zur Quali-Forschung in 2022 und darüber hinaus

Die Qualitative Forschung hat eine blendende Zukunft vor sich, meint Natacha Dagneaud von Séissmo. Trotz oder gerade wegen Corona konnte die qualitative Forschung profitieren. Neben den digitalen Erhebungsformaten prägen auch weitere positive Entwicklungen die Zukunftsfähigkeit der Branche.

Welche neun positiven Entwicklungen gibt es, die die Zukunft der Qualitativen Forschung nachhaltig prägen werden? (Bild: picture alliance | Matthias Stolt / CHROMORANGE)

Im Trubel unseres fortschreitenden Industrie-Wandels und des corona-bedingten digitalen Umbruchs hilft gesunder Menschenverstand, einige feste Ankerpunkte zu finden.

1. Qualitative Forschung findet Erkenntnisse, die Unternehmen wirklich weiterhelfen

Sowohl diejenigen, die man „im Bauchgefühl“, aber nicht verifiziert, als auch diejenigen, mit denen man gar nicht gerechnet hatte. Solange qualitative Forschung menschliches Denken und Handeln sinnvoll abbildet und Tiefverborgenes ins Licht stellt, hat sie Bestand. Wir staunen immer wieder darüber, dass mehr Daten in den Unternehmen nicht zwangsweise zu mehr Erkenntnissen geführt haben. Es fehlt immer die pointierte Bohrung:

Big data continue to be a big disappointment. Organisations tend to get overwhelmed and there is often much more incisive insight to be gained by getting inside the minds of a smaller number of people

, stellt Philip Graves von SHIFT Consultancy (Cambridge) fest.

2. Digitale Befragungsformate haben nicht nur keine nennenswerten Nachteile aufgewiesen, sondern erhebliche Vorteile bewiesen

Begegnungen und ergebnisoffene Konversationen mit Menschen im sicheren, nichtwertenden Raum sind das Spezialgebiet der qualitativen Marktforschung. Ob dieser Raum physisch oder virtuell abläuft, ist zunächst zweitrangig. Einen Rapport etablieren gute Forscher und Forscherinnen ganz egal wie – ob am Telefon, am Tisch, via Zoom oder Online-Community.

Die Begegnung online (im Live-Format, aber auch asynchron) ist weniger intrusiv, schafft dadurch mehr Vertrauen und Öffnung: Neuerdings beichtete eine Probandin über ihr vorhandenes geheimes Bankschließfach, das nicht einmal ihr Ehemann kenne…

Außerdem erlaubt es die Digitalisierung eine bessere Streuung der Geografie, was einem Paradigmenwechsel der „Demut der kleinen Stichprobe“ gleichkommt. Plötzlich kann mit nur drei Gruppendiskussionen eine große Bandbreite an menschlicher Vielfalt abgebildet werden. Vor kurzem waren wir beim Thema Reifenservice beim Flottenmanagement dankbar für die Einwände der Savoyer gegenüber den Bretonen oder Südfranzosen… ohne die wir unbefriedigte Bedürfnisse am (bisherigen Großstadt-) Markt nicht entdeckt hätten.

Die Bereitschaft, an einem Interview in der Mittagspause oder zu Hause mit Kind teilzunehmen, ist gestiegen. Für vielbeschäftigte Zielgruppen war An- und Abreise abschreckend genug im Verhältnis zur Aufwandsentschädigung – gerade in Ballungszentren. Die qualitative Forschung profitiert zunehmend von einer höheren Durchdringung bei bisher wenig erreichten Zielgruppen.

3. Forschungsinstitute werden auf lange Sicht nachhaltiger forschen. Auch hierfür weist digitale Erhebung eine äußerst positive Umweltbilanz auf

Qualitative Forschung wird zum Glück nicht mehr bedeuten, dass hochqualifizierte Moderationsteams auf dem Bahngleis warten bzw. im Stau stehen – oder gar am Flughafen übernachten (alles schon passiert). Unser Reiseaufwand ist drastisch gesunken – das kommt allen entgegen.

Ganz abgesehen davon sind endlich durch die digitale Welt bessere Kompatibilität von Beruf und Familie für alle Eltern gegeben. Hund, Katze, Wellensittich können jetzt angeschafft werden. Die häufigen Übernachtungen fallen weg.

Die Dematerialisierung von Stimulus-Material ist außerdem eine große Entlastung aus ökologischer, zeitlicher und finanzieller Sicht.

4. Für Rekrutierende und Studiobetreibende bedeutet dies auch ein Wechsel des Geschäftsmodells

In manchen Ländern sind Rekrutierungsbüros historisch von der Vermietung von Räumlichkeiten für Befragungen getrennt. In Deutschland war es bisher nicht so. Der Rekrutierungspreis war günstig, weil ein Teil der Kosten durch die Raummiete abgedeckt war. Wenn die Forschung digital bleibt (und das wird sie), heißt es, dass neue Pricing- und Geschäftsmodelle aufkommen werden.

Wenn Face-To-Face, dann bitte mit Ausnahme- und Verwöhn-Charakter! Ob es die Einwegscheibe sein wird? Wir qualitativen Forschenden müssen mit der gesamten Supply Chain überlegen, wie wir den Auftraggebenden ein Maximum an Verbrauchernähe mit einer intensiven Client Experience bieten können – ganz egal ob digital, physisch oder hybrid – ob live „im Stadion“ oder on demand wie auf Netflix (und genauso spannend!).

Heilsam in dieser rapiden Digitalisierung ist die Rückbesinnung auf den Wert des einzelnen Probanden oder der einzelnen Probandin. Denn auf diese eine gut rekrutierte Person kommt es schließlich an.

5. Digitale Befragungsmethoden setzt digitale Agilität voraus: Wir werden mehr Haushalten zu digitaler Kompetenz verhelfen müssen

Deswegen haben wir uns dazu entschlossen, ein Video zu drehen, das wir zu Beginn unserer Online-Gespräche und Gruppen abspielen wollen. In etwa wie das Sicherheitsvideo im Flieger: Ja, wir können noch den Markt prägen und für eine „digitale Etikette“ sorgen. Rekrutierungsbüros und qualitative Forschungsteams tragen ohnehin bereits täglich dazu bei, Menschen den Umgang mit Zoom, Mikrofon, Videokamera und Head-Set so einfach wie möglich zu vermitteln.

6. Verhalten und Aussagen klaffen weiterhin auseinander. Diese Kluft zu schließen ist Aufgabe der zukünftigen Forschungsansätze

Durch Verhaltensforschung geraten vielfach klassische Befragungsmethoden unter Druck. Zum Beispiel deklarieren Raucher und Raucherinnen gern, dass sie auf neuartige, alternative Tabakprodukte umsatteln möchten – und tun es einfach nicht, wenn die Produkte lanciert sind. Kommt Ihnen das bekannt vor? Wir müssen also in der Forschung eher nach überraschenden Verhaltensindikatoren suchen als auf Antworten auf vernünftige Fragen zu setzen. Aber auch hier gilt die alte Wahrheit: Eine gute Forschungsleistung zeichnet sich durch die Interpretation der Daten, NICHT durch die Produktion von Rohdaten aus (die manche Auftraggeber so oft und so gern in Gänze für sich beanspruchen).

7. Mit der Zunahme von standardisierten und automatisierten Lösungen (auch in der qualitativen Forschung!) wird es endlich mehr Raum geben für das, wofür Quali-Forschung wirklich unabdingbar ist: Hypothesenbildung!

Qualitative Forschung kann zum Beispiel helfen, im Vorfeld einer aufwändigen Quantifizierung die erfolgversprechendsten Routen zu identifizieren und somit Ressourcen zu sparen. Es ist nicht nur denkbar, sondern auch legitim, einiges der „Brot-und-Butter“ Quali-Marktforschung (Konzept-Tests, Produkt-Tests, …) zu standardisieren. Da wird die Tech-Industrie einiges durcheinander wirbeln.

Die wahre Aufgabe von qualitativer Forschung ist es, Hypothesen zu generieren, Kategorien zu explorieren, Dimensionen zu erkennen. Bottom-Up-Analysen sind der Mehrwert des Forscherhirns, das den Wald vor lauter Bäume genau erahnt und erkennt. Den Rest übernehmen am besten die soliden quantitativen Teams, wenn sie wissen, worauf es bei der Befragung ankommt. Man kann mittlerweile fast alles messen: Deshalb braucht es die qualitativen Forschenden als Relevanz- und Sinnwächter.

8. Qualitative Forschung kann mehr als befragen: Sie trumpft auf mit Interpretationskraft bei Texten, Finesse bei semantischen Fragen und Dekodierungskompetenz bei semiotischen Fragestellungen

Qualitative Forschung hat in der Form von Gruppendiskussionen soziale Konversation herbeigeführt und untersucht. Heute schöpft sie zusätzlich aus dem überall stattfindenden sozialen Diskurs im Netz. Dort ist es inzwischen gelernt, dass wenige Personen viele Menschen beeinflussen. Schön, dass es rückwirkend klarmacht, welche normalen, sozialen Phänomene eine ad-hoc Gruppendiskussion genau reproduzieren soll.

Aus dem Biotop der Tiefeninterviews und der seitenlangen Transkripte von Videoaufnahmen haben wir gelernt, verbale wie non-verbale Zeichen zu deuten. Mit Syntax-Analyse und Natural Language Processing überwinden qualitative Forschende kognitive Grenzen bei der massenhaften Textanalyse. Vor allem können sie von nun an Erkenntnisse aus diversen Textquellen miteinander verbinden – für immer aussagekräftigere Diagnosen. Text Mining und Web Crawling öffnen tolle Türen, insbesondere denjenigen, die menschliche Interaktion verstehen und Botschaften zu entziffern wissen.

Dazu bildet Semiotik eine Fertigkeit, die mehr denn je notwendig ist: Bei stets schwindender Lese-Kompetenz und -Bereitschaft seitens der Rezipienten und Rezipientinnen sind optische, akustische und sonstige nicht-textliche Zeichen ein neuer Imperativ und sie müssen gekonnt eingesetzt werden. Bei inflationärem Einsatz von Siegeln und Icons brauchen Unternehmen die Talente von qualitativ-semiotisch ausgebildeten Geistern.

9. Weil die Menschen, die Forschung kaufen, sich nicht plötzlich blamieren können, wird es schließlich nur wenige grundlegende Änderungen in unserem Business geben

Lassen Sie uns einen Blick auf die Psychologie der Forschungseinkäufer werfen: Weil diese sich mit den bisherigen Anbietenden wohlfühlen, werden sie auch weiterhin auf die bisherigen Forschungsformate zurückgreifen. Wie wäre sonst zu erklären, dass sie einen völlig anderen Kurs fahren? Vieles der diskursiven Veränderung ist Fantasie – den Rest bilden langsame Entwicklungen.

Über Natacha Dagneaud

Natacha Dagneaud ist Managing Director von Séissmo und engagiert sich seit 25 Jahren für Methodenentwicklung und treffsichere Diagnosen in der Qualitativen Marktforschung.

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  1. Frank-Thomas Naether am 02.02.2022
    Schöner Artikel und sehr gut zusammengefasst, danke dafür! Noch weiter komprimiert ist die Quintessenz: je digitaler die Welt, desto wichtiger die qualitative Marktforschung.
  2. Frank-Thomas Naether am 14.03.2022
    Schöner Artikel und sehr gut zusammengefasst, danke dafür! Noch weiter komprimiert ist die Quintessenz: je digitaler die Welt, desto wichtiger die qualitative Marktforschung.
  3. Frank-Thomas Naether am 30.05.2022
    Schöner Artikel und sehr gut zusammengefasst, danke dafür! Noch weiter komprimiert ist die Quintessenz: je digitaler die Welt, desto wichtiger die qualitative Marktforschung.

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