Applied Science 50 Jahre Buying Center - Wer kauft da eigentlich ein?

Gatekeeper spielen eine wichtige Rolle im Beschaffungsprozess. Sie sind über die verfügbaren Angebote informiert und kontrollieren den Informationsfluss sowie den Zugang zu Entscheidungsträgern im Unternehmen. (Bild: picture alliance / NurPhoto | Nicolas Economou)
Das Original - Simply the best
Frederick E. Webster, Jr. und Yoram Wind haben in ihrem Klassiker “Organizational Buying Center” aus dem Jahr 1972 unser Verständnis für das Kaufverhalten von Unternehmenskunden grundlegend verändert. Sie haben erstmals gezeigt, wie wichtig die systematische, man könnte sagen: marktforscherische Untersuchung und Analyse des industriellen und institutionellen Kaufverhaltens für effektive Marketing- und Vertriebsstrategien ist. Sie betonen dabei insbesondere die großen Unterschiede zwischen Einkaufsprozessen in Endverbraucher- (B2C) und Industriemärkten (B2B).
Diese Unterschiede kommen hauptsächlich durch den Einfluss der formalisierten Organisation, Budgetverantwortungen und mehreren – im Gegensatz zu einzeln agierenden – Entscheidungsträgern zustande.
Das geniale am Modell von Webster und Wind war beziehungsweise ist es, dass es Marketingentscheidern eine Blaupause an die Hand gibt, wie Einkaufsverhalten zu verstehen, Marktinformationen zu analysieren, Zielmärkte zu bewerten und Kriterien zu identifizieren sind, die bei B2B-Einkaufsentscheidungen eine Rolle spielen. Das Modell hat zudem den Anspruch, branchenübergreifend gültig zu sein, ist also einerseits durchaus abstrakt und generisch, kann andererseits aber tatsächlich auch als erstes Rahmenmodell für jedwede Analyse eines B2B-Einkaufsprozesses dienen.
Vier Variablen beeinflussen das Kaufverhalten
Im Modell werden vier Klassen von Variablen – individuelle, soziale, organisatorische und umweltbezogene – beschrieben, die Kaufentscheidungen beeinflussen. Umwelteinflüsse umfassen wirtschaftliche, technologische, politische, rechtliche und kulturelle Faktoren für die Gestaltung des Kaufverhaltens. Organisatorische Einflüsse, einschließlich Aufgaben, Struktur, Technologie und Mitarbeitenden, spielen eine Rolle bei der Motivation und Steuerung des Kaufverhaltens innerhalb der formalen Organisation.
Die formale Organisationsstruktur, die die Teilsysteme Kommunikation, Autorität, Status, Belohnung und Arbeitsablauf umfasst, wird als Schlüsselfaktor für das Kaufverhalten untersucht.
So sind insbesondere die verschiedenen Buying Center-Rollen aus dem Artikel in Theorie und Praxis aufgegriffen worden und dienen heute in den Marketing- und Vertriebsabteilungen vieler unzähliger Unternehmen als zentrales Analyseelement zum Verständnis komplexer Einkaufsentscheidungen bei B2B-Kunden. Der nachfolgende, für Praktiker aufbereitete Artikel, geht auf diese Rollen konkreter ein.
Der Leitfaden für Praktiker
Im Artikel “Major Sales: Who Really Does the Buying?” von Harvard Business School Professor Thomas V. Bonoma werden die komplizierten sozialen, psychologischen und emotionalen Faktoren, die den oftmals eben nicht rationalen B2B-Entscheidungsprozess beeinflussen, ins Zentrum gerückt. Der Autor betont vorweg, wie wichtig es ist, diese “intangiblen”, “irrationalen” und weniger greifbaren Aspekte zu berücksichtigen und hebt deren entscheidende Rolle hervor, um echtes Kundenverständnis aufzubauen und im Marketing- & Vertriebsprozess gezielt nutzen zu können.
Als erster Schritt wird die Identifizierung der tatsächlichen Entscheidungsträger hervorgehoben, da die Machtdynamik im Unternehmen nicht immer mit dem formalen Rang übereinstimmt. Zur Unterstützung dieses Prozesses skizziert der Autor fünf Machtgrundlagen, über die Entscheidungsträger verfügen können, von der legitimen Macht, die sich aus der Position ableitet, bis hin zur Expertenmacht, die auf Wissen und Fähigkeiten beruht.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in diesem Artikel untersucht wird, ist die Wahrnehmung der subjektiven Eigeninteressen der Käufer. Es ist zwar allgemein anerkannt, dass Einkäufer von Natur aus in ihrem eigenen Interesse handeln, doch kann es schwierig sein, ihre Beweggründe genau zu diagnostizieren.
Der Autor bietet verschiedene Techniken an, um herauszufinden, wie Käufer ihre Prioritäten setzen und was ihr Eigeninteresse bestimmt, einschließlich der Untersuchung ihres bisherigen Verhaltens, der Erforschung ihres beruflichen und persönlichen Hintergrunds sowie der Analyse ihrer Handlungen während des Kaufentscheidungsprozesses.

Abb.1: Rollen im Buying Center
Die sechs Rollen im Buying Center
Sobald die Entscheidungsträger identifiziert sind, kann mit der Zusammenstellung des Buying Centers und der Analyse der Buying Center Rollen begonnen werden.
- Für gewöhnlich wird der Einkaufsprozess durch den sogenannten Initiator angestoßen, der erkennt, dass ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung ein Problem des Unternehmens lösen oder einen Bedarf erfüllen kann.
- Der Gatekeeper spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle im Beschaffungsprozess. Es handelt sich dabei um Personen, häufig zum Beispiel Einkäufer oder Einkaufsleiter, die als Experten für das in Frage kommende Problem oder Produkt fungieren. Sie sind über die verfügbaren Angebote der Anbieter informiert und kontrollieren den Informationsfluss und den Zugang der Anbieter zu den Entscheidungsträgern im Unternehmen. Gatekeeper haben einen großen Einfluss darauf, welche Anbieter überhaupt die Möglichkeit erhalten, ihre Produkte vorzustellen und schlußendlich zu verkaufen. In einigen Fällen formalisieren Unternehmen diesen Prozess durch eine Liste zugelassener Anbieter, die festlegt, wer an das Unternehmen verkaufen darf und wer nicht.
- Influencer sind Personen, die ein informelles Mitspracherecht innehaben, wenn es darum geht, ob ein Kauf getätigt wird oder nicht. Je größer der Umfang und die organisationalen Auswirkungen des Kaufs sind, desto größer ist der Kreis der potentiellen Einflussnehmer. Dazu können Vorstandsausschüsse, Aktionäre in börsennotierten Unternehmen oder auch “ganz normales” Personal wie Mechaniker oder Krankenschwestern gehören.
- Der Entscheider sagt letztendlich ja oder nein zu einer Anschaffung. Bei wichtigen Entscheidungen arbeitet oft eine Gruppe von Führungskräften zusammen, um die Rolle des Entscheiders zu erfüllen. In der Regel wird jedoch eine dieser Personen zum richtigen “Verfechter” der Anschaffung und treibt diese bis zum Abschluss voran. Ohne einen solchen Verfechter würden viele Anschaffungen niemals zustande kommen.
- Der Einkäufer und der Nutzer sind zwei weitere Rollen im Buying Center Konzept. Die formelle Einkaufsabteilung des Unternehmens nimmt in der Regel auch die Rolle des Einkäufers ein, der für die Beschaffung des Produkts oder der Dienstleistung organisatorisch verantwortlich ist.
- Die Rolle des Nutzers hängt von der Art des Produkts oder der Dienstleistung ab und umfasst all die Personen, die das Produkt oder die Dienstleistung innerhalb des Unternehmens nach der Beschaffung verbrauchen oder nutzen werden. Nutzer können durch ihre Expertise in der Anwendung von Vorgängerprodukten Wissensträger sein und üben ihren Einfluss durch entsprechende Produktwünsche an das Management aus.
Ausblick für die Wissenschaft
Cabanelas et al. (2023) fassen in ihrem neuen Überblicksartikel 50 Jahre an Beiträgen aus der Literatur in Verbindung mit aktuellen Trends zusammen und eröffnen so ein breites Spektrum an Möglichkeiten für die zukünftige Forschung zum Buying Center. Im Folgenden seien die für die Marktingforschung relevantesten drei Forschungsdesiderate aufgezeigt:
- Desiderat Schnittstellen: Mehrere Forschende schlagen vor, dass sich der Einkauf nicht mehr nur mit Fragen der Produktion, sondern auch mit den Marketinganforderungen des Unternehmens befassen sollte. Im Sinne von “ein guter Einkäufer muss auch ein guter Verkäufer sein” (und umgekehrt). Unternehmensintern jedoch werden Einkauf und Marketing i. d. R. als unterschiedliche, nicht miteinander verbundene Funktionsbereiche betrachtet. Während der Einkauf auf die Produktion und Logistik ausgerichtet ist, wird das Marketing mit der Nachfragegenerierung und der Erfüllung der Kundenbedürfnisse in Verbindung gebracht. Die Herausforderung besteht also darin, die Buying Center-Theorie auf die Integration von Marketing und Einkauf über ein modernes Supply Chain Management auszurichten - eine Entwicklung, die sich vor allem bei den Einkäufern, aber auch in der Folge bei den Lieferanten auswirken wird.
- Desiderat Digitalisierung: Mitarbeitende mögen in der Regel keine Veränderungen. Gerade bei der Einführung komplexer technischer Neuerungen sind Widerstände vorprogrammiert. Cabanelas et al. rufen daher dazu auf, dass sich zukünftige Studien zum Organizational Buying Center nicht nur mit der Analyse des Einkaufsentscheidungsprozesses befassen sollten, sondern auch die spätere Übernahme und Akzeptanz der zu beschaffenden Produkte und/oder Dienstleistungen berücksichtigen. Dies ist von entscheidender Bedeutung, wenn es sich um innovative technologische Güter (Stichworte Künstliche Intelligenz und Automation) handelt, die den Status quo oder die derzeitige Arbeitsweise der einkaufenden Organisation verändern sollen. Technologie ist in einer zunehmend digitalisierten Welt von entscheidender Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, was eine eingehende Analyse ihrer Auswirkungen auf Entscheidungsfindung und Geschäftsmodell erfordert.
- Desiderat Nachhaltigkeit: Überraschenderweise spielt das Konzept der Nachhaltigkeit in der Buying-Center-Forschung bislang keine Rolle. Lediglich die bahnbrechende Arbeit “Socially Responsible Organizational Buying: Environmental Concern as a Noneconomic Buying Criterion” von Minette Drumwright aus dem Jahr 1994 (sic!) untersuchte die Rolle sozial verantwortlicher Buying-Center-Mitglieder in der Beschaffung. Hier besteht also eine große Forschungslücke, die durch die Anwendung theoretischer Ansätze aus den Bereichen Institutionalismus, Legitimität und Stakeholder-Theorie zu schließen ist.
Wir hoffen, dass wir Ihnen mit unserem aktuellen Kolumnenbeitrag einen guten Überblick und Ausblick über die häufig komplexen, intransparenten und eben doch nicht immer so rationalen Entscheidungsprozesse und Rollen im B2B-Einkauf geben konnten. In diesem Sinne: Happy Selling!
Verwendete Literatur:
- Bonoma, T. V. (2006). Major sales: who really does the buying?. Harvard Business Review, 84(7-8), 172ff.
- Cabanelas, P., Cortez, R. M., & Charterina, J. (2023). The buying center concept as a milestone in industrial marketing: Review and research agenda. Industrial Marketing Management, 108, 65-78.
- Webster Jr, F. E., & Wind, Y. (1972). A general model for understanding organizational buying behavior. Journal of marketing, 36(2), 12-19.
- Webster, F. E., & Wind, Y. (1972). Organizational buying behavior. Prentice Hall.
Über die Personen
Prof. Dr. Michael Fretschner ist Co-Gründer der smart impact GmbH und Professor für Marketing & E-Commerce an der NORDAKADEMIE Hochschule der Wirtschaft.
Prof. Dr. Jan-Paul Lüdtke ist Co-Gründer der smart impact GmbH sowie Professor und Studiengangsleiter für E-Commerce an der Fachhochschule Wedel.
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