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dossier.PLUS: Die Rolle der Beratung in der Markt- und Sozialforschung

Tauchen Sie ein in das spannende Thema "Die Rolle der Beratung in der Markt- und Sozialforschung: Erfolgsfaktoren und Best Practices". Im Zeitraum vom 16. Oktober bis zum 10. November 2023 werden Mitgliedsinstitute des ADM dieses Thema in vielfältigen Formaten beleuchten. Unsere Experten teilen ihr Wissen und ihre Erkenntnisse, um Ihnen einen tiefen Einblick in diese wichtige Thematik zu bieten.
Editorial
Beratung durch Markt- und Sozialforschung – eine Positionsbestimmung
Hartmut Scheffler für den ADM
Seit Jahrzehnten werden Markt- und Sozialforschung (im folgenden MSF) fast gebetsmühlenartig mit gleichen oder ähnlichen Fragen konfrontiert: Kann und sollte MSF überhaupt beraten? Welche Art von Beratung wird erwartet, welche nicht? Wird der Beratungsanspruch erfüllt?
Bei einer Diskussion im Rahmen der Woche der Marktforschung im Mai 23 sagte Ralf Strehlau, Präsident des BDU-Bundesverband Deutscher Unternehmensberatungen, dass die MSF für das Verstehen, die Unternehmensberatung darauf basierend für das Erarbeiten von Lösungen verantwortlich sei.
Kann MSF mehr? Kann MSF mehr beanspruchen? Es bedarf wohl einer Positionsbestimmung zu diesem Thema!
Darum geht es
Das Beratungs–Knowhow in der MSF hat viele Facetten. Felddienstleister haben andere Beratungsthemen und Kompetenzen als Teststudios, als Data Analysten, als Branchen- oder Themenspezialisten bis hin zu Full–Service-Anbietern. Die MSF erhebt mit zunehmendem Selbstbewusstsein mehr und mehr den Anspruch sehr umfassender – immer aber datenbasierter – Beratungsleistungen und erfüllt diesen Anspruch mittlerweile in hohem Maße. Beratungsleistung zu erbringen, ist aber nicht nur Anspruch der MSF, sondern facettenreiche Verpflichtung und Versprechen.
Warum Verpflichtung? Weil Auftraggeber, seien es solche aus der Marktforschung oder aus der Sozialforschung, in der Regel nicht nur Daten benötigen, sondern für ein wirtschaftliches, gesellschaftliches, politisches Problem, für eine zu bewältigende Aufgabe und Herausforderung Entscheidungshilfen benötigen. Die Markt- und Sozialforschung liefert diese Entscheidungshilfen in Form von Erkenntnissen und Empfehlungen aus Daten. Den vollständigen Wert erhalten diese Daten also erst durch die darauf aufbauende Verdichtung und Ableitung von Erkenntnissen und Empfehlungen – kurz: in Form einer qualifizierten Beratungsleistung.
Warum Versprechen? Weil datenbasierte Beratungskompetenz eine Vielzahl von Fähigkeiten und Erkenntnissen voraussetzt – oft interdisziplinär. Das Versprechen, entsprechendes Wissen einzusetzen, zu schulen, weiterzuentwickeln ist Grundbedingung der Verpflichtungserfüllung.
Um die Vielzahl dieser Facetten geht es im Folgenden.
Die Tätigkeit der MSF ist immer eine datenbasierte und wissenschaftsbasierte Dienstleistung. Umfang der angebotenen Beratungsleistungen wie auch Erwartungen an den Beratungsumfang seitens der Nachfragenden verändern sich. Die Beratung zum Forschungsprozess und während des Forschungsprozesses, also die Beratung bei Auswahl der Datenquellen, Methodenauswahl, Fragenformulierung, Stichprobenziehung bis hin zur Analyse und Auswahl der geeigneten statistischen Verfahren ist Standard und von jeher Positionierungsmerkmal der MSF.
Oftmals setzen die Erwartungen an Beratung aber früher an und gehen weit über die Analyse hinaus. Für die Qualität der Beratung sind die spezifischen Erfahrungen der MSF als Summe der Qualifikationen der Mitarbeitenden und der über die Zeit gewonnenen Erfahrungen entscheidend.
Grundlagen der Beratung: Das Verstehen
Grundlage der Beratung durch MSF sind immer Daten, weiter Erkenntnisse aus der Wissenschaft (unter anderem Soziologie, (Sozial-)Psychologie) sowie durch Ausbildung und Erfahrung gewonnenes Wissen zu unterschiedlichen Themenfeldern. Zentraler Anspruch der MSF ist dabei der des Verstehens: des Verstehens von Daten, von Menschen, von Forschungsthemen, von Branchen und Marken.
Daten verstehen schafft Beratungskompetenz durch die Fähigkeit, die Herkunft und Relevanz von Daten zur Lösung des vorgegebenen Problems bewerten zu können – sei es bei klassisch über Primärforschung erhobenen Daten, bei automatisch in verschiedenen Prozessen anfallenden Daten (Geodaten, Online-Nutzungsdaten, Einkaufsbons etc.), Daten aus den Sozialen Medien oder durch Analysen oder Verfahren der künstlichen Intelligenz wie Generativer KI oder LLMs gewonnene Daten.
Menschen verstehen schafft Beratungskompetenz durch die Fähigkeit, menschliche Verhaltensweisen und Einstellungen nicht nur messen, sondern auch auf Grundlage entsprechender Ausbildung und Erfahrung bewerten und im Sinne der Aufgabenstellung interpretieren zu können. Einschlägige Ausbildungsgänge sind unter anderem Psychologie, Sozialpsychologie, Soziologie, Neurologie.
Empirische Sozialforschung verstehen schafft Beratungskompetenz durch die Fähigkeit, den gesamten empirischen Forschungsprozess beginnend mit der Empfehlung zu geeigneten Verfahren über alle weiteren Forschungsschritte optimieren zu können.
Forschungsthemen verstehen schafft Beratungskompetenz durch Kompetenz zum Forschungsthema wie zum Beispiel Fragestellungen der Markenführung, der Kommunikationsforschung, der Produktentwicklung, UX, CX oder sozial-wissenschaftlicher Themenfelder.
Branchen, Marken und Kunden verstehen schafft Beratungskompetenz durch Kenntnis und Bewertungsfähigkeit von Kontext-Daten wie Besonderheiten der Branche oder Marke, Besonderheiten des Auftraggeber-Unternehmens, Besonderheiten in der Kultur wie Organisationsstruktur beim Auftraggeber oder Besonderheiten der Persönlichkeitsmerkmale der Adressaten von Beratung.
Prozesse und Folgen verstehen schafft Beratungskompetenz durch betriebswirtschaftliche Kompetenz und Kompetenz bezogen auf politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse, zum Beispiel Einschätzung existierende Barrieren oder der finanziellen oder gesellschaftspolitischen Implikationen der eigenen Empfehlungen.
Dieser einzigartige Verstehens-Kanon ist ständiger hoher Anspruch der MSF an sich selbst und legitimiert den breiten Beratungsanspruch über verschiedene Beratungsebenen.
Beratungsebenen
Eine umfassende Beratung im Rahmen von Markt- und Sozialforschungsprojekten umfasst vier große Bereiche:
a) Problemverständnis
b) Forschungsprozess/Empirie
c) Erkenntnisse und Empfehlungen
d) Umsetzung und Implementierung
Die Ebenen b und c sind nie wirklich infrage gestellt worden. Die Ebene a, die Beratung bei der exakten Definition des Forschungsproblems / der Forschungsherausforderung ist lange unterschätzt und stiefmütterlich behandelt worden – obwohl in ihrer Relevanz für späteren Projektimpact äußerst wichtig. Die letzte Ebene (Umsetzung) ist im Hinblick auf Relevanz und Impact von MSF immer wichtiger geworden und wird der MSF immer noch von vielen Nutzern nicht zugetraut. Die vielen Formen des Verstehens legitimieren aber gerade auch den Beratungsanspruch für genau diese Ebene.
a) Problemverständnis
Erste Beratungsebene ist Beratung bei der Analyse und Präzisierung der Problemstellung, beim Verstehen der Anlässe und Ziele des Forschungsprojektes, beim Verstehen und gegebenenfalls Unterstützen der Einbindung in den Gesamtkontext unternehmerischer, gesellschaftlicher oder politischer Probleme und Entscheidungsprozesse („understand“): Beratung hin zu einem klaren gemeinsamen Verständnis über Ziel, Forschungslücke, Vorgehensweise und Lösungshorizont. Erst dieses Verständnis kann zu optimaler Beratung der richtigen empirischen Umsetzung (Operationalisierung) und der weiteren Beratungsschritte führen.
b) Forschungsprozess / Empirie
Die zweite Beratungsebene ist die der empirischen Beratung, das heißt Beratung zu geeigneten Datenquellen, geeigneter Konzeption, geeigneten Forschungsansätzen und Methoden bis hin zu geeigneten Verfahren der statistischen Analyse: das unumstritten ureigene Terrain der MSF.
c) Erkenntnisse und Empfehlungen
Die dritte Beratungsebene ist eine auf den Grundlagen „Wissen und Erfahrung“ basierende Verdichtung von Ergebnissen zu Erkenntnissen und darauf aufbauend die Ableitung von Empfehlungen und Management Summarys. Erhöhter Impact der Beratung kann hier noch erzielt werden durch erhöhte „Erlebnisqualität“ mittels verständlicher, grafisch ansprechender und nutzungsaffiner Formate (zum Beispiel) Infographiken, Dashboards, Datencockpits, Narrative).
d) Umsetzung und Implementierung
Die vierte Beratungsebene ist die der Umsetzungs- und Implementierungsberatung, sinnvoll immer gemeinsam mit dem Kunden. Beispiele sind Workshops, Bildung von Szenarien und Moderation zur Lösungsfindung. Die daran anschließende Implementierungsberatung kann – entsprechende Bereitschaft des Kunden und Fähigkeiten des Beraters vorausgesetzt – bis hin zur Prozessberatung und Prozessbegleitung bei der Umsetzung der Erkenntnisse führen. Nicht zuletzt gehört hierzu auch die Beratung und Begleitung zur Implementierung technischer Lösungen, zum Beispiel API´s oder technische Plattformen für CX-Trackings.
Die vier Beratungsebenen sind nicht einzeln zu sehen, sondern greifen grundsätzlich ineinander. Die Gesamtheit der vier Ebenen verschafft darüber hinaus der MSF eine einzigartige Positionierung. Die vier Beratungsebenen setzen in unterschiedlicher Kombination und Intensität die unter Punkt 2 gelisteten Beratungsgrundlagen („Verstehen“) voraus.
Das Versprechen
Hohe Beratungsqualität ist Ergebnis der Summe aus den für das jeweilige Projekt relevanten Erfahrungen des Institutes/Auftragnehmers, den Erfahrungen der für das Projekt eingesetzten Mitarbeitenden, der formalen Ausbildung und Weiterbildung der Mitarbeitenden, zum Beispiel im Studium und/oder berufsbegleitend.
a) Erfahrung
Für die Qualität der Beratung sind neben Wissen und Erfahrung der Mitarbeitenden des Auftragnehmers auch dessen Erfahrungen im jeweiligen Forschungsgebiet, das heißt Branchen- und Marktkenntnisse sowie Erfahrungen mit dem jeweiligen Forschungsthema und der eingesetzten Methodik wichtig. Nur so können Untersuchungsergebnisse nicht nur isoliert analysiert und interpretiert, sondern in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Die Kenntnis und Nutzung von existierenden Vergleichsstudien oder Datenbanken sind weitere wichtige Erfahrungen.
b) Wissen und Ausbildung
Neben der akademischen Ausbildung der Mitarbeitenden kann zum Beispiel die duale Ausbildung zum „Fachangestellten für Markt- und Sozialforschung“ (FAMS) die Grundlage zur Befähigung von hochwertigen Beratungsleistungen bilden.
Als angewandte Forschung unterliegt die MSF dem Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnisse, der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Methoden und Instrumente wie auch dem ständigen Wandel durch unter anderem ständig neue Fragestellungen und Aufgaben. Für die Qualität der Beratung über alle Beratungsprozessschritte hinweg ist damit entscheidend, Mitarbeitende auch kontinuierlich weiterzubilden.
Das für ein spezielles Projekt benötigte Wissen und die benötigten Erfahrungen sind wechselnd und heterogen, so dass es keinen engen und klar definierbaren Wissens- und Erfahrungskanon gibt. Umso wichtiger ist im Rahmen von Angeboten und den Beratungselementen im Angebot umfassende Transparenz.
c) Objektivität in der Beratung
Objektivität gehört zu den Gütekriterien der MSF und ist gültig für alle Verfahren, Methoden und Beratungsebenen.
Objektivität bedeutet und verlangt, subjektive Einflüsse der handelnden Personen auf die Ergebnisse und Erkenntnisse zu vermeiden. Vollkommene Objektivität der Forschung ist in der Praxis nur schwer erreichbar. Deshalb wird im modernen wissenschaftlichen Gebrauch – wie auch in der MSF – Objektivität dann als gegeben erachtet, wenn eine intersubjektive Reproduzierbarkeit von Ablauf, Ergebnissen und Erkenntnissen gegeben ist.
Objektivität als wichtiges Kriterium auch der Beratung setzt Durchführungsobjektivität, Auswertungsobjektivität und Interpretationsobjektivität voraus.
Am schwierigsten und doch so relevant ist die Interpretationsobjektivität. Es gilt, die typischen Fallstricke wie persönliche Interessen der Forschenden oder Ergebnisinteressen der Auftraggeber unbedingt zu vermeiden. Oder mit Merton unter seiner Qualitätsnorm der „disinterestedness“: Vermeidung jeglicher persönlicher Ziele und Interessen bei der Interpretation zugunsten rigoroser Orientierung an allgemein gültigen Erkenntnissen.
d) Dokumentation und Transparenz
Da Objektivität immer Interpretationsspielräumen unterliegt und es keine Messkriterien gibt, kommt der Dokumentation und Transparenz bei Durchführung, Auswertung und Interpretation größte Bedeutung zu. Hier sind Auftraggeber als Transparenzfordernde und die beratenden Markt- und Sozialforscher als Transparenzliefernde gleichermaßen in der Pflicht. Ganz aktuell ist notwendige Transparenz bei der Verwendung generativer KI und LLM. Hier sollte immer dokumentiert werden, welche KI – Tools/Modelle warum, wo, wie eingesetzt wurden (bis hin zur Dokumentation der final genutzten Prompts): dies alles zur Nachvollziehbarkeit.
Transparenz bedeutet aber auch schon früher im Forschungsprozess, nämlich bei den im Angebot genannten Beratungsleistungen, größtmögliche Transparenz zu liefern bezüglich der Erfahrungen des Institutes und der Mitarbeitenden allgemein, konkret auf die Anforderungen des angebotenen Projektes und konkret bezogen auf einzelnen Wissensgrundlagen der Beratung (s. Punkt 2). Dies schließt auch eine entsprechende Transparenz zum Ausbildungs- und Wissenshintergrund der im Projekt eingesetzten Mitarbeitenden ein. Nur diese transparenzschaffende Information ermöglicht Auftraggebern, die Quantität und Qualität der angebotenen und zu erwartenden Beratungsleistung – auch vergleichend – zu bewerten.
Resümee
Beratungsfähigkeit der MSF zu behaupten, zu fordern, gegebenenfalls auch infrage zu stellen: all dies kann und darf nicht pauschalisiert geschehen. Die Qualität der Beratung ist ein in ständiger Erweiterung und in ständigem Wandel befindlicher datenbasierter Prozess aus Verstehen, verschiedenen Beratungsebenen und Relevanz/Impact-Versprechen. Dem stellt sich die MSF, daran ist sie zu messen, in dieser Kombination sieht sie ihr Alleinstellungsmerkmal, ihren USP.
Über Hartmut Scheffler

Hartmut Scheffler ist Diplom-Soziologe und Stadt –, Raum – und Regionalplaner. Von 1980 an in der Marktforschung tätig, seit 1990 bis 2020 Geschäftsführer des Emnid Institutes Bielefeld, später TNS Emnid, dann TNS Infratest, Kantar TNS, Kantar Deutschland. Mitglied in verschiedenen Beiräten und Branchenverbänden, unter anderem ADM (12 Jahre Vorstandsvorsitzender, seit 2021 Ehrenmitglied), BVM (dort 2009 als Forscherpersönlichkeit des Jahres geehrt). Seit Juli 2020 im Ruhestand, seit Januar 2021 freiberuflicher Berater für Marktforschung und Markenführung.