von Holger Geißler, marktforschung.de
Erinnern Sie sich noch? Im ersten Corona-Lockdown mussten alle Friseure für sechs Wochen ihre Geschäfte schließen. Vom 23. März bis 4. Mai 2020 gab es keine Möglichkeit sich in Deutschland professionell die Haare schneiden zu lassen. Der Moment der DIY-Friseure war gekommen. Do it yourself = Mach es selbst – diese Phrase bezeichnet Tätigkeiten, die von Amateuren ohne professionelle Hilfe ausgeführt werden. In dieser Zeit hatten Youtube-Tutorials zum Haareschneiden Hochkonjunktur. Glücklich, wer bereits das richtige Werkzeug besaß. In unserer Nachbarschaft verliehen wir uns gegenseitig Scheren und Langhaarschneider.
Auch ich bekam erstmals von meiner Frau die Haare geschnitten. Der Erfolg war durchwachsen. Zwar waren die Haare deutlich kürzer, der Kopf freier, aber schon nach dem ersten Waschen merkte ich deutlich die Unterschiede zu einem professionellen Haarschnitt. Überall standen Haare quer, die Linien waren nicht gerade, der Nacken nicht sauber ausrasiert. Sobald die Friseure wieder offen hatten, besorgte ich mir einen Termin.
Einfache Haarschnitte, Standard-Umfragen
Es gibt Haarschnitte, wo der Unterschied zwischen DIY-Haarschnitt und Friseurkunst gering ausfällt. So rasiert meine Frau meinem 15-jährigen Sohn regelmäßig die Haare auf 8mm oben und 3mm an der Seite. Ein sehr einfacher Schnitt mit wenig Fehlerpotenzial. Analog zum Haarschnitt gibt es auch in der Marktforschung Umfragen, die fast jeder selbständig mit der entsprechenden Software- oder Toollösung realisieren kann. Wie sagte es Chris Prox von Kantar neulich bei uns im Interview:
Es ist ja aber auch so: Die Kernfragen bei Werbe- und Innovationstests sind bei allen Kunden dieselben.
End-to-end Plattformen und Ansätze wie z. B. Toluna Start, Kantar Marketplaces, Ipsos.Digital, Kvest oder quantilope bieten mittlerweile eine ganze Palette von automatisierten Lösungen für gängige Einsatzfelder wie Werbewirkungstests, Regaltests, Konzepttests oder Markentrackings an. Vom Fragebogen über die Feldarbeit bis hin zum fertigen Powerpoint-Bericht oder Online-Dashboard, in dem die Ergebnisse eingesehen werden können. Selbst Institute nutzen mittlerweile solche Lösungen, weil die Effizienzgewinne enorm sind.
Das richtige Werkzeug bereits bei der Hand
Wir hatten damals im Corona-Lockdown das Glück bereits gut mit passenden Scheren ausgestattet zu sein. Weil wir früher einmal ein Au-pair-Mädchen hatten, das bereits eine Ausbildung zur Friseurin in ihrem Heimatland absolviert hatte. Sie schnitt gerne und gut die Haare unserer Kinder.
Auch in vielen auftraggebenden Unternehmen gibt es gut ausgebildete Marktforschende, die lange im Institut gearbeitet haben. Fast jeder betrieblich Marktforschende war einige Jahre im Institut tätig, bevor die Seite gewechselt wurde. Mit dieser Erfahrung im Rücken ist es grundsätzlich ein Leichtes DIY-Research im Unternehmen zu betreiben. Dazu kommt, dass eine Software wie z. B. Qualtrics, die für viel Geld lizensiert wurde, ja auch eingesetzt werden muss.
DIY bedeutet zudem in vielen Fällen nicht, dass man von A bis Z eines Projektes auf sich alleine gestellt ist. Viele Anbieter bieten nicht nur ihre Software zur Eigennutzung an, sondern darüber hinaus die Möglichkeit weitere Services dazu zu buchen. DIY wird so um eine Komponente erweitert: DIT – Do it together. So kann bei vielen Projekten wenig schief gehen. Wenn es einmal knifflig wird, helfen erfahrene Beratende aus.
„Das Tolle daran ist, dass sie das Beste aus Technologie und der Expertise unserer Beraterinnen und Berater in einer leistungsstarken Marktforschungsplattform vereint“,
sagt Daniela Blenke, ebenfalls Kantar, zur Lösung ihres Hauses. Oder man holt sich externe Unterstützung über Anbieter wie den Schöttmer Research Hub, der vielfältige Dienste rund um die Marktforschung anbietet.
Schöne neue DIY & DIT-Welt – alles Gold?
Hört sich ja alles gut an. Aber gibt es auch eine Kehrseite der Medaille? Ja, die gibt es. Und da es in unseren Dossiers darum geht unterschiedliche Positionen zu Wort kommen zu lassen, möchte ich potenzielle Kehrseite an dieser Stelle auch schon mal anreißen.
Profi oder Laie? Das macht einen Unterschied
Es gibt Haarschnitte, da macht es einen sehr großen Unterschied, ob ein Laie (selbst mit gutem Equipment) oder ein Profi am Werk ist. Ein schlechter Haarschnitt wächst früher oder später von allein wieder raus. Wenn allerdings ein Fragebogen schlecht konzipiert wurde, kann der Schaden für ein Unternehmen, das auf den Ergebnissen eine Entscheidung getroffen hat, sehr teuer werden. Falsche Operationalisierungen, Fehler in der Auswertung, schlechte Feldarbeit – die Liste potenzieller Fallstricke in einem Umfrage-Projekt ist lang.
Deshalb gibt es eine Ausbildung für Markt- und Sozialforschung und diverse Studiengänge für Markt-, Medien- und Sozialforschung. Empirische Sozialforschung ist in diversen Studienfächern wie der Psychologie oder Soziologie, die in die Marktforschung führen können, integriert. Bei einigen Instituten wie z. B. der G.I.M. dauert es ein bis zwei Jahre, bis Junior Consultants den ersten Fragebogen selbst entwerfen dürfen.
Die Demokratisierung der Forschung und ihre Kehrseiten
Die Anzahl an Umfragen ist in den vergangenen Jahren explodiert. Diese „Demokratisierung der Forschung“ bedeutet eben auch, dass jeder, der möchte, eine Umfrage mit den entsprechenden Tools machen kann. Dass „Doodle“ ein Umfragetool ist, dürfte vielen gar nicht mehr bewusst sein. Instagram und Facebook bieten als Feature simple Umfrage-Werkzeuge und deren Auszählung gleich dazu. Mit Google Forms können einfache Umfragen mit mehreren tausend Teilnehmern realisiert werden, ohne irgendwelche direkten Kosten. Immer mehr Redaktionen nutzen in Artikeln Umfragen mittels Tools wie Opinary oder Civey, um die Verweildauer auf der Seite zu erhöhen und anschließend über die Ergebnisse redaktionell zu berichten.
Das alles hat viele positive Seiten. Es bedeutet aber auch, dass oft keine Profis mehr am Werk sind, sondern Menschen, die „einfach mal schnell eine Umfrage machen“. Kann doch nicht so schwer sein! In einigen Fällen mag das auch der Fall sein, siehe das Doodle-Beispiel. Andererseits sieht man, wie beim Haareschneiden, sehr schnell Unterschiede zwischen Laien und Profis.
Elisabeth Noelle-Neumann dürfte sich angesichts der Demokratisierung der Umfrageforschung im Grab umdrehen:
Das Wichtigste für mich ist die Beteiligung an der Fragebogenkonferenz. Dort arbeiten drei bis vier Wissenschaftler die Fragebogen für immer wieder neue Umfragen aus. Je besser die Fragen, desto aussagekräftiger sind am Ende die Ergebnisse einer Umfrage. In unseren Fragebogenkonferenzen diskutieren wir oft zwei oder drei Stunden über eine einzige Frage.
Zwei bis drei Stunden Diskussion für eine einzige Frage?
Über die Dauer einer Mittagspause kann ich mit Appinio 1.000 Menschen befragen. „Und Zeit ist mittlerweile einfach entscheidend geworden.“ sagt Daniela Blenke von Kantar.
Der Ruf nach der Umfrage-Polizei
Gäbe es eine Umfrage-Polizei, die schlechte Umfragen ahnden würde, hätte die deutlich mehr zu tun als der Rat der deutschen Markt- und Sozialforschung. Der verfolgt lediglich Verstöße gegen die Standesregeln, nicht aber gegen schlecht operationalisierte Fragebögen. Das Problem für die Branche ist, dass viele Menschen den Unterschied zwischen professioneller Marktforschung und „mal eben schnell eine Umfrage machen“ nicht erkennen. Jeder weiß, was ein Arzt macht. Aber fragen sie einmal, womit Marktforschende ihr Geld verdienen.
Und wenn zu Marktforschung eben gehört, zwei bis drei Stunden über eine einzige Frage zu diskutieren, dann muss die Branche, allen voran die Verbände, deutlich machen, warum gute Umfragen ihre Zeit benötigen und nicht kostenlos zu haben sind. Entsprechende Meinungen werden wir im Rahmen dieses Dossiers in den kommenden Wochen ebenso vorstellen wie Tools und Ansätze für qualitativ hochwertige DIY-Forschung sowie Beispiele für die geschickte Kombination von DIY & DIT.