von Marco Ottawa, Deutsche Telekom
Wenn ich Post von Berufskollegen aus anderen Unternehmen bekomme, finde ich nur noch selten den Begriff „Betriebliche Marktforscherin“ in der Signatur. Stattdessen wimmelt es dort von „Market Insight Managern“ oder „Customer Insights Experts“. Auch unser weltweiter Branchenverband ESOMAR redet nicht mehr von „Market Research“, sondern von „Insights Industry“. Und ich selbst?
Seit der neuesten Umorganisation in meinem Unternehmen bin ich nun Senior Expert Customer Insights und nicht mehr betrieblicher Marktforscher, obwohl sich meine Aufgaben (bislang) nicht geändert haben. Ist das Ganze nur „alter Wein in neuen Schläuchen“, oder steckt hinter diesem Namenswechsel mehr als nur das Aufpolieren des angestaubten Images der Marktforschung?
Viele Newcomer und neue Themen
Was mir seit vielleicht anderthalb Jahren auffällt, ist eine erhebliche Verschiebung der Thematik in den deutschsprachigen Medien zur Markforschung. Galt der Schwerpunkt früher der Vorstellung klassischer Marktforschungsinstitute und ihrer (neuen) Methoden, scheint inzwischen Data Analytics das wichtigste Thema zu sein. Viele neue Namen tummeln sich da, die ich in 20 Jahren Tätigkeit als, wie ich für mich in Anspruch nehme, aufmerksamer betrieblicher Markforscher bislang nicht kannte. Vermeintliche Newcomer wie beispielsweise Civey sind bereit so arriviert, dass sie Mitglied im ADM sind. Wird das demnächst auch bei reinen Datenanalysten der Fall sein? Immerhin machen diese Unternehmen laut ESOMAR bereits halb so viel Umsatz wie die klassische umfragebasierte Marktforschung. Werden wir uns, um Bernd Wachter zu zitieren, an „Insights ohne Befragte“ gewöhnen müssen und zukünftig hauptsächlich als Interpreten „seelenloser Massendaten“ fungieren?
Die Auswirkungen des DIY-Trends
Neben der Verschiebung von klassischer Marktforschung zu Data Analytics sehe ich einen zweiten Megatrend, der uns betriebliche Marktforscher zunehmend betrifft, nämlich Do-it-yourself-Forschung. Dieser Trend ist bei Weitem älter als der erstgenannte, hat meiner Wahrnehmung nach jedoch in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung zugenommen.
Als ich vor 20 Jahren meine Tätigkeit als Marktforscher begonnen habe, wurden sämtliche Forschungs- und Feldleistungen fremd vergeben. Ein betrieblicher Marktforscher war in erster Linie Projektmanager, der Institute zu steuern hatte, um die Bedarfe seiner internen Kundinnen optimal erfüllen zu können. Zwar gab es ein paar Freaks wie Axel Theobald, Thomas Starsetzki oder Bernad Batinic, die sich mit Onlinebefragungen beschäftigten und, wie etwa Rogator, ihre Software dazu auch betrieblichen Marktforschungen anboten. Doch waren sie eher eine Randerscheinung.
In meinem Unternehmen haben wir die Chance, eigenständig und kostengünstig Befragungen durchzuführen, bald aufgenommen. Zunächst haben wir unsere Onlinebefragungssoftware für interne Befragungen genutzt. Einige Jahre später, nachdem wir hinreichend Erfahrungen mit Onlineforschung gesammelt hatten, haben wir uns auch getraut, Kunden online zu befragen. Dann fand mit Social-Media-Analysen erstmals etwas aus dem Bereich Data Analytics seinen Weg in unser Methodenportfolio. Irgendwann fragten wir uns, warum wir bei qualitativer Forschung eigentlich immer nur hinter dem Einwegspiegel als Beobachter sitzen sollten, und führten in Folge erste eigene qualitative Studien in Eigenregie durch.
Das „Brot- und Butter-Geschäft“ inhouse, die Pâtisserie bei Instituten
Nicht jede und jeder bei uns ist diesen Weg mitgegangen, doch ist die eigene Durchführung von Studien bei uns inzwischen eine Selbstverständlichkeit und nicht mehr eine Anfangs belächelte Spielerei.
Gleichwohl verzichten wir weiterhin nicht auf die Zusammenarbeit mit Instituten. Ganz vereinfachend gesprochen, liegt das „Brot- und Butter-Geschäft“ bei uns, die Pâtisserie bei Instituten.
Angesichts der zunehmenden Methodenvielfalt kann eine begrenzte Anzahl betrieblicher Marktforscherinnen gar nicht das nötige Methodenwissen aufbauen und aktuell halten, um alle Forschungsfragen, die an sie herangetragen werden, optimal in Eigenregie umsetzen zu können. Nach der alttestamentarischen Weisheit, dass der Prophet im eigenen Land nichts gilt, ist zudem immer wieder ein Institut, gerade wenn es einen großen und etablierten Namen trägt, als Gütesiegel gewünscht.
Rahmenbedingungen unserer Dienstleistung
Bevor ich auf die Auswirkungen dieser Megatrends auf die betriebliche Marktforschung eingehe, möchte ich zuvor noch einige Rahmenbedingungen, unter den unsere Branche aktuell arbeitet, erläutern. Da ist die zunehmende Geschwindigkeit der Ergebnislieferung, an sich auch außerhalb von Olympiaden nichts Neues, da der Mensch nach „höher, schneller, weiter“ strebt. Waren beispielsweise bei Konzepttests früher drei Wochen bis zur Ergebnislieferung akzeptiert, haben wir, nicht zuletzt durch eigene Studiendurchführung, die Erwartungshaltung auf wenige Tage verkürzt. Im Gegensatz zu früher ernten wir immer wieder Anerkennung dafür, wie schnell Marktforschung auch sein kann.
Die Demokratisierung von Insights
Der Siegeszug von CAWI hält an, was uns, sofern wir uns auf die eigenständige Durchführung von Onlinebefragung einlassen, durchaus in die Karten spielt. Die Effekte von Corona, sprich geschlossene Studios, scheinen mittlerweile abzuklingen, wie auch die Auftragslage der deutschen Institute beweist, die laut ADM-Handbuch 2021 wieder auf dem Niveau vor Corona liegen. Als weiteren Faktor sehe ich die Demokratisierung von Insights. Haben wir früher unsere Forschungsergebnisse nur selektiv verteilt, wird manches heute allen interessierten Kolleginnen online angeboten. Bleibt dabei zu hoffen, dass die These Thor Olof Philogène, CEO der Marktforschungsplattform Stravito, zutrifft, solche Demokratisierung maximiere die Effizienz von Organisationen.
Welche Auswirkungen hat das auf die betriebliche Marktforschung?
Was bedeuten nun die beiden Megatrends Data Analytics und Do-it-yourself-Marktforschung in Verbindung mit den aktuellen Rahmenbedingungen für uns betriebliche Marktforscher?
Ich sehe da zunächst Offenheit für Neues. Marktforscher sollten eo ipso neugierig sein. Warum also nicht auch Neugierde für neue Methoden entwickeln? Allerdings gehört dazu keineswegs nur Neugierde, sondern der Erwerb neuer Qualifikationen ist unabdinglich. Ich sehe da in erster Linie die Bereitschaft, zu programmieren. Dabei kann es sich um recht leicht zu erlernende Onlinebefragungs-Softwares handeln, um selbst Fragebögen zu gestalten, es kann aber auch die Anlage von Dashboards zur managementgerechten Visualisierung von Forschungsergebnissen sein. Letztlich kann es die Königsdisziplin Data-Mining sein, die zu beherrschen, gleichwohl intensive Schulung erfordert. Hier bedarf es wohl für die Mehrzahl der in BWL und Psychologie geschulten Marktforscherinnen einer grundlegenden Zusatzqualifikation.
Andere Tätigkeiten im Zusammenhang mit in Eigenregie durchgeführten Studien erfordern nicht eine dermaßen große Nach- bzw. Neuschulung. Ich denke dabei an das Interviewen sowie die Erstellung von Präsentationen. Gerade erfahrene Marktforscher, die viele Abende hinter dem Einwegspiegel verbracht haben, sollten in der Lage sein, zumindest thematisch einfache Einzelexplorationen oder Gruppendiskussionen durchführen zu können. Das gilt sinngemäß auch für die Optimierung von schriftlichen und persönlichen Präsentationen. In keinem Fall darf man vergessen, dass auch hinter der ausgefeiltesten Datenanalyse eine Geschichte steckt, die es vom betrieblichen Marktforscher zu erzählen gilt. Oder um mit Chris Benham, CMO der Management-Feedback-Plattform Alchemer, zu sprechen:
„Remember that data alone is not the story“.
In jedem Fall, und das hat sich in den 20 Jahren meiner Tätigkeit als betrieblicher Marktforscher und CI-Manager nicht geändert, sollten wir, um nochmals Bernd Wachter zu bemühen, die Deutungshoheit über unsere Daten behalten. Diese Fähigkeit, Daten u. a. unter Hinzuziehung qualitativer Studienergebnisse, zu interpretieren und in einen größeren Gesamtzusammenhang zu stellen, haben wiederum Daten-Analysten in aller Regel nicht erlernt.