Dr. Johannes Kirsch Wie erlebt man denn Dienstleistungen?

Heilende Wirkung soll der Kundenkontakt entfalten, so Dr. Johannes Kirsch. Ein hehrer Anspruch an die Mitarbeitenden im Call-Center. (Bild: picture alliance / AP Photo | Alex Cossio)
Dienstleistungen werden anders erlebt als Produkte, auch wenn beides auf eine Ebene gestellt wird. Es gibt Ausnahmen, wie etwa Bankkredite. Denn mit ihnen finanziert man ein Produkt. Aber bei Themen wie Energie, KFZ-Versicherung oder Internet sieht das schon anders aus. Strom fließt immer, selbst wenn man ihn nicht bezahlt hat, das Internet ist vor allem dann schmerzlich erlebbar, wenn es ausfällt und die KFZ-Versicherung wird überhaupt nicht erlebt, so man – und das ist das Beste, was passieren kann – denn unfallfrei bleibt.
Dienstleistungen können zu Irritationen führen
Und wenn man eine Dienstleistung erlebt, die man überhaupt nicht erleben soll, dann kann man oft im wahrsten Sinne des Wortes „was erleben“. Man hat die Rechnung nicht verstanden, war mit einer ausgezahlten Erstattung nicht einverstanden, oder das Internet funktioniert mal wieder nicht. Oft erlebt der Kunde dann zwei Dinge: Erst die Irritation, weil man glaubt, ein Versprechen einhergehend mit der Dienstleistung sei nicht eingehalten worden. Und dann erlebt man die Reaktion darauf im Kundendienst. Und der dort stattfindende Dialog bringt oft nicht wirklich eine Entspannung.
In diesen Fällen – leider sind es sehr viele – führt die erlebte Irritation zu einer bleibenden Enttäuschung. Das wiederum führt zu einer unbestimmten Unzufriedenheit, weil die Irritation nicht durch den Kundendienst aufgelöst werden konnte. All das will niemand im direkten Kontakt erleben. Schnell lösen sich die schönen bunten Bilder auf, und das Versprechen vom Glück wird zerstört.
Am „point of contact“ kommt es zum „Moment of Truth“. Es zeigt sich, wie ein Dienstleister das Erleben steuert.
Wir reden hier nicht von „Services“, wir reden davon, dass Kunden glauben, etwas einfordern zu müssen, von dem sie zumindest annehmen, dass es ihnen als Leistung versprochen wurde. Zum Beispiel schnelles Internet.
Der Kundenkontakt muss heilende Wirkung entfalten
Man sollte nun meinen, dass diese Momente der Wahrheit die ganz besondere Aufmerksamkeit eines jeden Anbieters von Dienstleistungen bekommen, denn sie sind äußerst gefährlich: Unzufriedenheit säht Misstrauen, Enttäuschung löst Bindung. Die Auflösung der vertraglichen Bindung ist dann nur eine Frage des richtigen Anstoßes von außen.
Gerade wenn etwas irritiert, wenn Vertrauen zur Disposition gestellt wird, gerade dann muss das Erleben im Kontakt so gesteuert werden, dass neue Begeisterung und vielleicht auch positive Überraschung die Beziehung erneut bekräftigt und festigt:
„Auch wenn ich mal was nicht verstehe, da ist immer jemand, der mir wirklich hilft“.
Der Kontakt muss heilende Wirkung entfalten, dann vertieft sich die Bindung und das Erlebte wird sogar gegenüber anderen kommuniziert. Übrigens: Das negative Erlebnis wird öfter erzählt.
Hier ist die Marktforschung dringend gefragt
Meine Frage: Warum beschäftigt sich Marktforschung vor allem mit den Vertriebserlebnissen und lässt die so wichtigen Serviceerlebnisse, gerade dann, wenn sie misslingen, außen vor? (Über einen Gegenbeweis würde ich mich sehr freuen; schreiben Sie mir.)
Um es deutlich zu sagen: Eine Beschwerdehotline ist kein Service, sie hilft dem Kunden lediglich, eine zugesicherte Leistung einzufordern. Ziel muss es sein, aus Beschwerden zu lernen. Und: Man sollte den gleichen Fehler nicht zweimal machen.
Die Erlebnisanalyse aus dem Kundenkontakt muss Chefsache sein
Es ist unzureichend, die Kontaktanalyse einer Riege von „Coaches“, die sich an einer populär wissenschaftlich ausgerichteten Küchenpsychologie orientieren, zu überlassen. Sie analysieren die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft in den verarmten, externen, oft sogar ins Ausland abgeschobenen, linguistisch schwach befähigten „Kontaktcentern“ (früher auch Callcenter genannt). Dorthin hat man nun auch den Net Promoter Score (NPS) delegiert. Sicher hat „heilen“ im Kundendialog etwas mit der Sprachwirksamkeit der Agierenden zu tun, sie braucht gute psychologische Navigationssysteme. Woher aber stammen die Informationen darüber, welche Sprache wirksam in welcher Systematik eingesetzt werden soll? Eine Antwort auf diese Frage ist aber nur ein Teil der zu leistenden Analysearbeit.
Die erste und wichtigste Frage ist: Was leisten unsere Prozesse und Systeme, um Irritation zu vermeiden? Wenn die beantwortet ist, schauen wir, wie wir im Falle eines „Systemversagens“ mit unseren Kunden pfleglich umgehen. Und das müssen wir dann auch über alle Kontaktkanäle hinweg tun („Omnichanneling“!).
Ziel muss es sein, Prozesse zu schaffen, die das „Heilen“ obsolet werden lassen. Um im Bild zu bleiben: Am besten der Patient wird nicht krank. Darum ist es wichtig, Therapien zu entwickeln, die die Gesundheit fördern; wenn er sich nicht meldet, ist er gesund.
Erlebnisse im Kundendialog sollten aktiv gesteuert werden
Quantitative, auswertbare Daten gibt es jede Menge, der gesamte Bewegungszyklus im Leben eines Kunden steht uns zur Verfügung. Alle Informationen aus allen Kontakten liegen vor und können analysiert werden. Nur explorative Methodik und der professionelle Gebrauch der Instrumente der empirischen Sozialforschung können hier echte Transparenz schaffen.
Aktuell begnügt man sich mit dem NPS, einem Mysterium, mit dem man die Mitarbeiter von Kontaktcentern gerne ausgiebig quält.
Über die Person
Dr. Johannes Kirsch studierte Soziologie und ist in einem Strukturvertrieb für Versicherungen ins Berufsleben gestartet. Ebenfalls bei einem Versicherer baute er die Marktforschung vertriebsnah mit auf und wechselte in den Direktvertrieb. Heute arbeitet er als Berater für Inhouse wie Outsourcing-Partner Kundenservicecenter. Sein Schwerpunkt war und ist in allen Funktionen die Entwicklung und Erhaltung von Kundenbindung und die prozessorientierte Qualitätssteuerung im Kundendialog.
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