Dr. Matthias Reisemann, Spiegel Institut Von Kunden und Nutzern: Eine CX-Bestandsaufnahme

Customer Experience Research wird allgemein als "Fokus auf den Kunden und dessen Erlebnis mit einem Produkt oder einer Dienstleistung bzw. Service" verstanden. Hier geht es darum, qualitative Daten wie etwa Motivlagen, Akzeptanz und Ähnliches zu erheben und zu ordnen, um ein umfassendes Bild des Kunden und seines Handelns zu generieren. Klassisch nutzen wir dazu die Methoden der qualitativen Marktforschung wie etwa Interviews oder Beobachtungen.
Was ist Customer Experience genau? Schauen wir zuerst auf die User Experience!
Bei der nutzerzentrierten Entwicklung, niedergelegt in der ISO-Norm 9241-210, fokussieren wir auf den Nutzer und dessen Nutzerziele. Der Gedanke, der dahinter steckt, ist: Wenn wir die Nutzerziele kennen, können wir diese mit den von uns zu entwickelnden Produkten und Services unterstützen. Sind diese Ziele echte, relevante Nutzerziele, dann sind die Chancen, dass wir ein erfolgreiches Produkt oder einen erfolgreichen Service entwickeln und auf den Markt bringen, recht hoch. Wir betreiben hier also eine Art strategische Vorarbeit, die uns hilft Produkt- bzw. Serviceeigenschaften und -funktionaltäten festzustellen und festzulegen. Nur solche Merkmale, die echte, relevante Nutzerziele unterstützen, sind Merkmale, für die es Bedarf am Markt gibt und für die es sich lohnt, begrenzte Entwicklungsbudgets zu verwenden. Der Geist der nutzerzentrierten Entwicklung lautet: Kenne die relevanten Nutzerziele, entwickle und unterstütze genau für diese Ziele.
Überlappung und Unterschiede von Customer und User Experience
Jetzt ist in den meisten Fällen der Nutzer zuerst ein (potentieller) Kunde oder vice versa. Da fragt man sich:
- Ist der Kunde gleich dem Nutzer?
- Sind Kundengruppen das gleiche wie Nutzergruppen?
- Gehen diese beiden kontinuierlich ineinander über?
- Sind Darstellungen der Erlebnisse wie Customer Journey Maps das gleiche wie User Journey Maps?
- Wo liegen die Unterschiede?
Um Nutzer und Kunden sowie deren Erlebnisse auseinander zu halten, gibt es ein einfaches Mittel: Nutzer interagieren mit dem Produkt oder Service, Kunden interagieren mit Vertretern oder Kommunikationsmedien der Organisation. Oft sind Menschen beides: Kunde und Nutzer. Dann muss das Gesamterlebnis als Kunde und als Nutzer positiv sein, damit echte Zufriedenheit und möglicherweise auch eine Loyalität zu den Produkten und Services einer Organisation entstehen.
Die folgende Abbildung verdeutlicht dies.

Der Kunde ist unterschiedlich zum Nutzer: Etwa der Flottenmanager, der Lieferwagen oder Lastwagen aussucht und bestellt und ein Kundenerlebnis aus der Interaktion mit Menschen der Organisation erlebt. Und ebenso der Fahrer, der das Produkt nutzt, mit ihm interagiert und somit ein Nutzererlebnis aus der Interaktion mit dem Produkt erlebt. Hier gibt es zwei Erlebnisse: die Customer Experience und die User Experience.

Der Kunde ist ebenso der Nutzer. Eine Privatperson, die ein Auto kauft und nutzt, hat somit zum einen ein Kundenerlebnis als auch ein Nutzererlebnis erfahren. Hier gibt es ein Erlebnis, nämlich das Gesamterlebnis. Dies setzt sich zusammen aus der Customer und der User Experience und muss insgesamt stimmen, um echte Zufriedenheit und Loyalität zu generieren.
Es gibt also zwei Typen der Customer Experience
- Customer Experience herrührend aus der Interaktion mit Menschen oder den Kommunikationsmedien der Organisation.
- Das Gesamterlebnis, wenn Kunde und Nutzer ein und dieselbe Person sind, herrührend aus der Interaktion mit Menschen und der Kommunikation der Organisation, als auch aus der Interaktion mit dem Produkt.
Dieser Unterschied sollte vorab klar sein, wenn man von Customer Experience spricht.
Wie wird Erleben dargestellt? Experience Maps und ethnografische Filme
Die aktuelle Methode der Wahl der Darstellung des Erlebens sind die oben erwähnten Customer oder User Experience Maps. Diese Maps sind aus der Idee entstanden, die Reise des Kunden oder Nutzers zu begleiten. Auf dieser Reise hat der Kunde (im Folgenden jederzeit ersetzbar durch den Nutzer) Begegnungen entweder mit der Organisation, die das Produkt oder die Dienstleistung anbietet, und / oder dem Produkt selbst. In diesen Begegnungen, den sogenannten Touchpoints, entsteht immer eine Art von Erlebnis, denn es gibt keine Begegnung ohne ein Erlebnis. Also liegt es an uns Produktentwicklern, Marketingexperten und / oder Serviceanbietern, diese Begegnungen mit dem übergeordneten Ziel Zufriedenheit und Loyalität zu generieren, möglichst positiv zu gestalten.
Eine weitere Methode, das Erleben darzustellen, sind ethnografische Interviews. Hier werden Kundengruppen durch ein längeres und in die Tiefe gehendes Interview zum Produkt und zu den eigenen Werten im Leben begleitet. Insbesondere die Teile des Interviews, in denen die Gesprächspartner ihre Umgebung und das im Fokus stehende Produkt vorstellen, können filmisch festgehalten werden. Anschließend werden, basierend auf einer qualitativen Auswertung, filmische Sequenzen zu einem Gesamtbild geschnitten. Der große Vorteil ist, dass das Erleben selbst in einer erlebbaren Art und Weise dargestellt wird.
Experience Maps
Mit Experience Maps können wir diese Touchpoints und das Erleben identifizieren und nachvollziehen.
Die dargestellten Reisen können sehr lang oder auch sehr kurz sein. Entscheidend ist, dass die Map uns als Entwicklungs- und Marketing-Team hilft, die gesamte Reise zu verstehen. Anhand der Map sollen wir das Erleben durch die Touchpoints zum einen nachvollziehen und zum anderen gegebenenfalls zukünftig positiv formen können. Es kann eine Reise vom allerersten Kontakt mit einer Organisation oder einem Produkt bis zum Verkauf / der Entsorgung des Produktes, aber auch ein typischer Tagesverlauf im Leben eines Kunden sein.
Hier kommen wir zu der Schwachstelle der Experience Maps: Sie können sehr viele Informationen beinhalten, da sie üblicherweise gemischt grafisch, textlich und tabellarisch dargestellt werden. Dadurch werden sie schnell sehr überladen, was sie ungeeignet für unsere üblichen Kommunikationsmedien, Papier und Bildschirm, macht. Customer- oder User Experience Maps füllen gerne Mal ganze Wände und sind deshalb sehr gut geeignet für Team- und offene Arbeitsräume mit großen Wandflächen. Sie sind langlebige visuelle und textliche Anker für das Entwicklungsteam.
Wie erheben wir das Erleben an den Touchpoints?
Erleben ist eine emotionale Sache, die oftmals flüchtig ist, aber dennoch nachhaltig wirkt. Aus diesem Grund muss das Erleben direkt erhoben werden, wenn es stattfindet oder solange es noch präsent ist. Hierzu kann der Kunde begleitet oder beobachtet werden, beides liefert dem qualitativen Marktforscher wichtige Erkenntnisse, sogenannte Insights. Die Beobachtung und Begleitung sind jedoch aufwändig und beeinflussen das Verhalten und Erleben der Beobachteten. Also versucht die Marktforschung das flüchtige Erleben des Kunden greifbar zu machen bzw. festzuhalten, um dann mit effizienteren Methoden wie etwa Einzelinterviews und Fokusgruppen, dieses Erleben einzufangen. Um die Emotionen des Erlebens festzuhalten oder zu einer späteren Zeit wieder aufleben zu lassen, eignen sich Methoden wie Tagebücher, persönliche Notizen oder Ähnliches. Mit modernen Technologien wie WeChat oder Messengerdiensten – letztendlich geht es darum Notizen, Audioaufnahmen oder Fotos festzuhalten – kann das Erlebte festgehalten und eine Erinnerung an die wahrgenommenen Emotionen und Gefühle gesetzt werden, die dann zu einem späteren Zeitpunkt erläutert oder diskutiert werden können.
Was ist der Kern des Erhebens der Customer Experience?
Wie so oft findet das eigentliche Formulieren des Erlebten in einem Austausch, einem Gespräch oder einer Diskussion mit einem erfahrenen qualitativen Marktforscher statt. Hier sind bewährte Marktforschungsmethoden wie ein qualitatives Interview oder eine Fokusgruppe sinnvoll. Trotz AI und Big Data gibt es hierzu noch keine echte Alternative. Zuhören und Nachfragen um an den Kern der Information und die Motivlage zu kommen, ist nach wie vor die Aufgabe interessierter und geschulter Zuhörer und Fragensteller.
Alternativ kann man das Erleben in geeigneter Weise durch Sprachaufnahmen oder Tagebucheinträge im Moment des Erlebens festhalten. Da dies durch die Befragten, den Kunden oder Nutzer selbst geschieht, ist es relativ ökonomisch und in größerer Anzahl durchführbar. Die folgende Sentimentauswertung ist sicherlich auch noch mit mathematischen Methoden durchführbar. Jedoch, um an den Kern des Erlebten und was dahinter steckt sowie die Motivlagen zu kommen, muss der qualitative Marktforscher lesen. Dabei wünscht er sich sicherlich vielmals hier und dort einen direkten, persönlichen Kontakt. Gegenüber marktforscherischer Hand- und Geistarbeit funktioniert es leider bisher noch nicht hinreichend, Insights durch größere Datenmengen und automatische Auswertung auszugleichen.
Erweiterte Customer Experience
Im Dschungel der Customer und User Experience zwischen "überall" und "live" sind die Übergänge von Forschung und Marketing, also dem gezielten Beeinflussen des Erlebens, fließend. Schon vor dem Erleben und vor der Existenz eines Produktes etwa kommt der Drang das Erleben zu formen beim Kunden an. Co-Creation-Methoden werden teilweise als Marketingaktionen eingesetzt, um den Nutzer oder Kunden frühzeitig in den Entwicklungsprozess einzubinden. In diesen Entwicklungsstadien gibt es Konzepte oder Prototypen eines Produktes, zu denen Rückmeldung von potentiellen Kunden eingeholt wird. Ein Teilziel dieser Aktionen ist es, den Kunden an die Organisation und das entstehende Produkt zu binden und frühzeitig, bewusst die ersten Touchpoints zu setzen. Die Hoffnung ist es, "Evangelisten", Markenbotschafter und / oder Innovatoren heranzuziehen.
Customer Experience in a Nutshell
- Es gibt das reine Kundenerlebnis, hier hat der Kunde selbst keinen Kontakt mit dem Produkt selbst.
- Meist ist der Kunde auch Nutzer und erlebt somit die Interaktion mit der Organisation und dem Produkt selbst.
- Soll dieses Erleben festgehalten werden, muss es unmittelbar beim Erleben selbst oder solange es noch präsent ist, festgehalten werden.
- Um das Erleben später nochmals hochzubringen, können Anker während oder kurz nach dem Zeitpunkt des Erlebens mittels geeigneter Aufzeichnung gesetzt werden.
- Um das Erleben und die Motivlagen zugänglich zu machen, werden die klassischen Methoden wie Interviewen und Moderieren genutzt.
- Customer Experience kann gut als "Reisebeschreibung" in einer Experience Map festgehalten werden. Auf Grund Ihrer Informationsdichte passt diese formattechnisch jedoch schlecht zu den heutigen Kommunikationsmedien.
- Eine Alternative sind filmisch festgehaltene, ethnographische Interviews, die auf einer fundierten qualitativen Auswertung beruhen.
Es bleibt spannend, wie es mit der Customer Experience weiter gehen wird.
Zum Autor:
Dr. Matthias Reisemann
- Geophysiker, Promotion in angewandten Ingenieurswissenschaften
- Chief Research Officer, Spiegel Institut
- Seit 1999 am Spiegel Institut tätig im Bereich
- menschzentrierte Entwicklung, Forschung und Beratung
- User Requirements Engineering
- Usability- und Akzeptanzevaluationen
- entwicklungsbegleitende Beratung
- Aufbau der Usability Engineering Seminare am Spiegel Institut
- Vortragender und Seminarleiter zu allen Themen der menschzentrieten Produktentwicklung und Entwicklungsprozessen
Eine Nutzung von Systemen, Produkten und Dienstleistungen ohne eine Erfahrung/Erlebnis gibt es nicht. Man kann nur versuchen dieses Erlebnis positiv zu gestalten. Organisationen, die diese Einstellung selbst nicht leben, die ihren Entwicklungsprozess nicht selbst nach diesem Credo ausrichten, werden es schwierig finden begeisternde Systeme, Produkte und Dienstleistungen anzubieten.
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