Perspektivenwechsel: Erleben aus Kundensicht

Von Oliver Bössow, Leiter Research & Implementation bei der Vocatus AG
Warum kündigen zufriedene Kunden? Und warum bleiben enttäuschte Konsumenten am Ende doch bei ihrem Anbieter? Dieses oftmals scheinbar paradoxe Verhalten von Kunden lässt sich erst dann wirklich verstehen, wenn man all ihre Erlebnisse mit dem Anbieter oder Produkt kontextbezogen, ganzheitlich und in ihrer gesamten Dynamik betrachtet.
In quantitativen Zufriedenheitsstudien liegt der Fokus auf Einem: Messen, messen, messen. Es ist selbstverständlich wichtig, statistisch belastbare Kennzahlen für die Steuerung von Prozessen und Kundenschnittstellen zu erhalten. Und es ist gut zu wissen, dass die Mehrheit der Kunden die verspäteten Lieferungen oder die langen Wartezeiten in der Kunden-Hotline beklagt, dass viele Kunden die Fachkompetenz ihrer persönlichen Ansprechpartner bemängeln oder das Gefühl äußern, ihr Problem werde vom Gegenüber nicht ernst genommen. Nur, was heißt das inhaltlich genau?
Quantitative Erkenntnisse mit qualitativem Leben füllen
Bei Aspekten wie Lieferfristen und Wartezeiten ist es vergleichsweise einfach, das über die Abfrage der entsprechenden Service-Level-Erwartungen zu beantworten. Nicht ganz so leicht wird die Angelegenheit mit Blick auf „weiche“ Faktoren, wie Kompetenz und Wertschätzung – und davon gibt es eine ganze Menge. Eine Vielzahl an Leistungen wird von Personen erbracht. Dementsprechend „menschelt“ es in der Kunden-Anbieter-Beziehung an allen Ecken und Enden.
Um ein wirksames operatives Verbesserungsmanagement in Gang zu bringen, reicht es daher nicht aus, die Zufriedenheit „nur“ zu messen. Es ist wichtig, die gewonnenen quantitativen Erkenntnisse zusätzlich mit qualitativem Leben zu füllen. Eine Antwortverteilung ist und bleibt abstrakt, der Originalton der Kunden ist das nicht. Die Nennungen, die man aus den wenigen offenen Fragen in quantitativen Zufriedenheitsstudien erhält, generieren zu wenige wirkliche Einsichten. Das hat mehrere Ursachen: Mal ist die Ausgangsfrage zu substanzlos, etwa bei: „Warum genau sind Sie mit der Pünktlichkeit der Lieferung unzufrieden?“ Mal weiß die überwiegende Mehrheit der zufriedenen Kunden nichts Wichtiges zu berichten. Am schlimmsten ist aber, dass die Antwort meist aus dem Kontext des Kundenerlebens gerissen wird.
Erlebnisketten statt isolierte Leistungsaspekte erheben
Denn Kunden erleben keine isolierten Leistungsaspekte, sondern eine Erlebniskette, in deren Kontext alle Detailbewertungen stehen. So verlief zwar vielleicht der Werkstattbesuch für den Kunden an sich völlig reibungslos. Aber bis er endlich einen annehmbaren, zeitnahen Reparaturtermin erhielt, musste er möglicherweise erst mehrere Vertragswerkstätten seines Autoherstellers kontaktieren und wurde dabei auch noch unfreundlich behandelt. Im Fragebogen ist dieser Aspekt aber vielleicht gar nicht berücksichtigt. Aus Kundensicht ist dieser Punkt jedoch für seine Bewertungen entscheidend.
Um tiefere Einblicke in das Kundenerleben zu erhalten, gilt es daher von der Struktur- auf die Erlebnisebene zu wechseln: Was hat der Kunde genau erlebt? Welche Ereignisse lösen (dauerhaft) Begeisterung aus, welche stellen „nur“ zufrieden? Und welche Defizite können nicht kompensiert werden und führen zu Frustration?
Die Kunden auf ihrer Customer Journey begleiten
Wir sind jedoch meist nicht dabei, wenn die interessanten Dinge passieren. Um den reichen Erfahrungsschatz der Kunden zu heben, muss man diese deshalb ein Stückchen auf ihrer Reise mit dem Anbieter, der so genannten Customer Journey, begleiten. Dafür werden die Kundenerlebnisse im Kontakt zum Anbieter offen und im Längsschnitt erfasst. So lässt sich verstehen, wie einzelne Ereignisse zusammenhängen, wie sie die Kundeneinstellungen nachhaltig prägen oder verändern.
Eine Möglichkeit einen Entscheidungs- und Kaufprozess genauer zu beleuchten sind so genannte 360° Analysen. Hierbei werden die Kaufinteressenten mehrfach kontaktiert und anhand eines Fragebogens befragt – und zwar zu Beginn des Auswahlprozesses, währenddessen und nach Abschluss der Entscheidungsfindung. So lassen sich in den jeweiligen Erhebungen unterschiedliche Themen erheben, wie etwa die Anbieterbekanntheit, Zielsetzungen und Erwartungen zu Beginn des Entscheidungsprozesses oder kritische Momente während der Entscheidungsfindung und die Hintergründe für die letztendliche Entscheidung.
Eine andere Möglichkeit sind qualitative Online-Tagebuchstudien. Hier ist der Anbieter quasi „live“ dabei, wenn sich seine Kunden im Shop beraten lassen, das neuerworbene Produkt ausprobieren oder sich am Ende der Vertragslaufzeit nach möglichen Alternativen umschauen. Aber auch rückblickend lassen sich zeitnahe Erlebnisse über Post-Prozess-Explorationen sehr gut erheben und in einer „Herzkurve“ anschaulich darstellen.
Gerade die beiden letztgenannten Methoden geben sehr lebendige Einblicke in das individuelle Kundenerleben. Zudem haben sie den Vorteil, dass automatisch nur die aus Kundensicht wirklich relevanten Ereignisse betrachtet werden. So lassen sich Zusammenhänge und Einstellungsänderungen schlüssig nachverfolgen und erklären (Abbildung 1).

Abbildung 1: Das Kundenerleben besteht aus positiven oder negativen "Einzelschicksalen"
Besser die „richtigen“ Kunden statt möglichst viele Kunden befragen
Erfahrungsgemäß ist es sinnvoll, sich auf positive wie negative „Einzelschicksale“ zu konzentrieren und die breite Masse der zufriedenen Kunden hierbei außen vor zu lassen. Das Ziel ist schließlich, von positiven Ausreißern zu lernen und negative Ausreißer in den Griff zu bekommen. Dafür ist es wichtiger, die Antworten der „richtigen“ Kunden zu erhalten, als die von möglichst vielen Kunden.
Ein Mehrwert entsteht so nicht nur auf der Einzelfall-Ebene. Über einen Vergleich der Erlebnisketten von begeisterten und frustrierten Kunden lässt sich beispielsweise sehr gut erkennen, bei welchen Leistungsaspekten es sich um Basis-, Leistungs- oder um Begeisterungsmerkmale handelt (Abbildung 2).

Abbildung 2: Ein Vergleich der Erlebnisketten zeigt Begeisterungs- und Frustrationsmomente auf
Die Analyse der Customer Journey bietet spannende und neue Möglichkeiten, Einsichten in das Denken des Kunden zu gewinnen. Genau in der Abbildung der dynamischen Prozesse und in der offenen und detaillierten Erfassung des Kundenerlebens liegt das größte Innovationspotenzial für die Zufriedenheitsmessung. Relevante Ausnahmesituationen im Kundenkontakt lassen sich so nicht nur besser und plakativer identifizieren. Sie ermöglichen es auch ohne statistische Signifikanzen zu präzisen und zu greifbaren Handlungsempfehlungen zu gelangen.
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