Hartmut Scheffler | Berater für Marktforschung und Markenführung CXM 2.0 – Die Chance für die Marktforschung

Gehört CXM zur Marktforschung? Hartmut Scheffler geht der Frage auf den Grund. (Bild: picture alliance / imageBROKER | mirafoto)
Zwei Fragen prägen die Diskussion um CX und Marktforschung in den letzten Monaten: Ist CX eigentlich Marktforschung? Hat die Marktforschung CX verschlafen? Warum gibt es eigentlich keine dritte Frage: Wie kann die Zukunft der CX-Marktforschung aussehen?
Dazu im Folgenden einige Überlegungen.
Begriffsklärung
Zunächst aber zur Begriffsklärung: Mit CXM wird mal Customer Experience Measurement gemeint, mal – gerade in jüngster Zeit und in dem sehr lesenswerten Statement von Peter Pirner – Customer Experience Management. Das eine ist logischerweise die Voraussetzung des Anderen.
Wenn es um die Zukunft von CX in der Marktforschung geht, dann kann dies aber nur in der Kombination aus Measurement und Management geschehen (im Folgenden: CXM). Oder anders formuliert: Management umfasst auch Measurement. Und CXM umfasst für die folgenden Überlegungen auch den kleinen Bruder oder die kleine Schwester UX, denn bei UX gelten gleiche Situations – und Chancenbeschreibungen.
Hat die Marktforschung verschlafen?
Hat die Marktforschung etwas verschlafen? Ja, das hat sie, und zwar vor allem aus drei Gründen:
- CX oder ganz am Anfang Kundenzufriedenheit war doch irgendwie lange Zeit ein fünftes Rad am Wagen der Marktforschung. Ein etwas ungeliebtes und erst recht spät entdecktes Kind. Warum dies so war, hat sich mir nie erschlossen. Trotzdem wurde da Terrain in unnötiger Weise freigegeben.
- Dann spielte bei dieser Thematik immer der Datenschutz und im Bereich der Markt – und Sozialforschung besonders das wichtige Anonymitätsgebot eine große Rolle. Teile von CXM waren nun einmal von Anfang an gewünscht personifiziert. Und damit für die klassische Marktforschung mit den existierenden Richtlinien je nach Unternehmenskonstruktion gar nicht oder nur schwer umsetzbar. Hier sind dann andere Anbieter, die nicht die Privilegien der Markt und Sozialforschung mit erkämpft haben und die sich auch nicht an die Richtlinien der Markt- und Sozialforschung halten wollten, auf den fahrenden Zug aufgesprungen.
- Und der dritte Grund für das Verschlafen der Marktforschung: Die Marktforschung hat sehr wohl auch sehr früh eigene technische Lösungen zur Messung entwickelt. Sie schafft es aber vergleichsweise selten, solche Lösungen erfolgreich national und international in großem Maße auszurollen und zu skalieren. Dies haben dann Technikanbieter, pars pro toto sei Qualtrics genannt, mit großem Erfolg gemacht. Was die Messtechnik-Tools betrifft, so umfasst dies natürlich längst nicht nur Befragungstools, sondern auch Beobachtungstools und intelligente Analysen von Social Media-Inhalten – alles relevant im Measurement.
Wenn die Marktforschung hier aus verschiedenen Gründen etwas langsam war, dann heißt dies aber natürlich überhaupt nicht, dass nicht CXM (gemeint immer wieder als CX – Measurement plus Management) eine klassische Aufgabe der Marktforschung war und ist.
Warum ist CXM denn überhaupt Marktforschung?
- Weil es um die Ermittlung und Erfassung von Erfahrungen und Bewertungen und darauf basierenden Einstellungen und Verhaltensweisen geht: die ureigene Aufgabe entscheidungsvorbereitender und entscheidungsrelevanter Marktforschung.
- Weil es um Marken und Markenführung geht.
- Weil für das Ganze das tiefe und breite Know-how der empirischen Sozialforschung und der Statistik angewendet werden kann und muss.
Mir scheint, dass die Frage "Ist CXM Marktforschung?" viel stärker aus den Unternehmen und der dortigen Situation herrührt, getrennte Abteilungen und Verantwortlichkeiten aufgebaut zu haben, die dann oft nebeneinander, manchmal sogar – ich habe da leider entsprechende Erfahrungen machen können – gegeneinander gearbeitet haben. Die Frage kam also infolge organisatorischer Besonderheiten und nicht allein in Folge möglicher Begrenzungen der Marktforschung auf (abgesehen von dem Problem des Anonymisierungsgebotes).
Und nun?
In den vergangenen Monaten gebetsmühlenartig wiederholt und von vielen Marktforschungsanbietern als DIE eigenständige Lösung und Leistung propagiert: die Kombination technischer Lösung und der dafür prädestinierten Anbieter einerseits und mit den Beratungsleistungen und den dafür prädestinierten Marktforschungsanbietern andererseits. Mit Beratung ist dann die methodische Beratung gemeint, aber vor allem auch Beratung in Richtung der Interpretation, der Umsetzung der Ergebnisse, der Implementierung von entsprechenden Maßnahmen. Was lag aber näher, als dass die Technikanbieter mehr und mehr auch diese Schritte zu können beanspruchten. Und/oder dass die Unternehmen selbst (dort die betrieblichen Marktforscher oder spezielle CX-Abteilungen) diese Aufgabe übernommen haben. Und schon schien die Instituts-Marktforschung wieder aufs Abstellgleis geschoben werden zu können.
War es das nun?
Ich denke ganz und gar nicht, weil einer der wichtigsten Anwendungsbereiche von CX-Ergebnissen und Erkenntnissen noch weitestgehend unterbelichtet ist. Ich komme darauf zurück. Vorher aber noch ein Hinweis auf die wachsenden Hygienefaktoren. Natürlich braucht es die modernsten technischen Systeme, natürlich braucht es Schnelligkeit in der Erhebung, Auswertung und Umsetzung der Ergebnisse, natürlich braucht CX Realtime Feedback Systeme. Und bei vielem davon auch unterstützt von künstlicher Intelligenz.
Wer dies nicht garantieren kann, bleibt am Bahnsteig stehen. Die Marktforschung hat mittlerweile in vielen Bereichen bewiesen, die Notwendigkeit dieser Hygienefaktoren verstanden zu haben und die entsprechenden Erwartungen zu erfüllen – nicht immer, aber immer häufiger. Dies ist eine – zusammen mit der vorhin erwähnten Beratungsleistung notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für eine starke Rolle der Marktforschung im zukünftigen CXM. Wenn ich von einer starken Rolle der Marktforschung im CXM spreche, dann meine ich übrigens sowohl die betriebliche Seite wie die Institutsseite. Alle diese Überlegungen sind gerade auch für die betrieblichen Marktforscher – auch wenn sie in vielen Unternehmen mittlerweile anders heißen – relevant und essenziell.
Was meint CXM 2.0 und warum ist dies eine Chance für die Marktforschung?
CXM sollte zwei wesentliche Anwendungsfelder haben und bisher wird das zweite Feld stiefmütterlich behandelt. Das erste Anwendungsfeld ist das klassische Feld, über CXM besser zu werden, Customer Centricity zu zeigen und zu leben. Prozesse zu optimieren bis hin zu dem – noch relativ neuen – Verständnis, dass CXM alle Touchpoints umfasst und deshalb CXM auch alle Touchpoints zwischen Marke/Produkt und Kunde/Käufer/Nutzer/Interessent betreffen muss. Soweit, so gut.
CX – und hier meine ich wirklich die Summe der Erfahrungen von Kunden/ Käufern/ Nutzern/ – ist aber auch ein ganz wesentlicher Teil integrierter Markenführung. Dies kommt bislang als zweites Anwendungsfeld viel zu kurz. Nur zwei Beispiele:
- Passen CX und Kommunikation (Inhalte der Kommunikation, Produktversprechen, emotionale Ausprägung) zusammen? Findet der Konsument die Versprechen in der Erfahrung wieder? Wenn nein, kann optimierte CX dies ändern oder muss die Kommunikation geändert werden (besser: die Inhalte in der Kommunikation)? Und wenn Änderungen in der Kommunikation nötig sind, passen die zur Marke? Und schon gibt es einen Erfolgs-Dreiklang aus CXM, Kommunikation in all ihren Facetten und Marke/ Positionierung/ Markenstärke.
- Das bringt mich zum zweiten Punkt, nämlich dem unmittelbaren und viel zu selten gelebten Zusammenhang von CX und Marke. Finden sich das geprägte Markenbild, das Markenversprechen, spiegeln sich Emotionen rund um die Marke und ihre Auftritte in der ganz individuellen, oft täglichen Experience wider? Das ist die identische Frage wie bei Kommunikation: Wenn nein, wo muss angesetzt werden? Bei der Optimierung der Prozesse in Richtung besserer CX oder bei einer geänderten Positionierung der Marke, einem geänderten Markenbild?
Es dürfte unmittelbar klar sein, dass CXM in dieser erweiterten 2.0-Rolle nicht reduziert werden kann auf automatisierte technische Messsysteme. So wichtig und unersetzlich diese sind. Die Erkenntnisse der CX-Forschung führen vielmehr immer auch zu grundsätzlichen strategischen und manchmal auch schnellen operativen Fragen in Richtung der Stimmigkeit dieses Dreiklangs aus
- Marke und Markenversprechen,
- Kommunikation und Kommunikationsinhalten und
- CX (gerne auch erweiterbar um eine vierte Ecke, die Ecke des stimmigen Produktes, der Produktinnovationen).
Und solche Fragen verlangen dann oft schnelle und agile Deep Dives mit ganz unterschiedlichen, situativ angepassten, oft qualitativen Verfahren, um die entsprechenden strategischen Empfehlungen geben zu können. Diese Erweiterung von CXM in Richtung ganzheitlicher Markenführung und eines wesentlichen Steuerungselementes dieser Art von Markenführung (basierend auf wichtigen, schnellen, validen Daten) ist für mich CXM 2.0.
Fassen wir zusammen:
CXM 2.0 braucht zum einen die bewährten technischen Systeme zur kontinuierlichen und schnellen Messung – gerne auch von Anbietern außerhalb der klassischen Marktforschung. CXM 2.0 muss Hygieneanforderungen wie Schnelligkeit und Agilität und ein gutes Storytelling erfüllen.
Wenn dann CXM im Betrieb wie in der angewandten Instituts-Marktforschung als strategisches Instrument der Markenführung eingesetzt wird, wenn Ergebnisse aus Markenforschung und Kommunikationsforschung mit denen aus CXM kombiniert werden, dann wird die Zukunft von CXM, also von Measurement UND Management, eine der Kooperation aus Technik und Technikanbietern mit anspruchsvoller und beratender Marktforschung sein.
Mit CXM 2.0 wird – da bin ich ganz optimistisch – CX Measurement und CX Management unzweifelhaft Teil der Marktforschung werden (ich meine: bleiben) und die Marktforschung wird umgekehrt Treiber eines besseren, weil erkenntnisreicheren, taktischen und strategischen CXM im Unternehmen werden.
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